Wahlen am 3. November in der Türkei

Entfernung der Kandidaten

Fast alle Parteien drohen bei den Wahlen in der Türkei am 3. November an der Zehnprozenthürde zu scheitern. Chancen haben nur die Islamisten, die Sozialdemokraten und ein Großkonzern.

Wenn die Dinge so lägen, wie es der Staatsbürgerunterricht lehrt, wenn also das Parlament die oberste Gewalt und das Wahlvolk der Souverän wäre, wäre die Lage einfach: Die islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) würde bei den vorzeitigen Parlamentswahlen in der Türkei am 3. November einen überwältigenden Sieg erringen, vielleicht sogar als einzige unter den konkurrierenden Parteien die Zehnprozenthürde überspringen und so alle 550 Mandate abräumen. Das Parlament wäre zu einem ständigen Parteitag umfunktioniert, und die AKP könnte in den kommenden fünf Jahren mit sensationellen hundert Prozent aller Sitze oder zumindest mit einer komfortablen Mehrheit regieren.

Dieser Traum aller Wahlkämpfer aber ist für die AKP ein wahres Horrorszenario. Denn das letzte Wort haben am Bosporus weder die Volks- noch die Kapitalvertreter, sondern die Generäle. Und dass sie einen Wahlerfolg der Islamisten teilnahmslos hinnehmen, ist etwa so wahrscheinlich wie die Aussicht, dass Abdullah Öcalan einen Posten im nächsten Kabinett erhält. So beten die Islamisten dafür, dass ihr Sieg nicht allzu hoch ausfällt.

Vor zwei Wochen mussten sie den ersten schweren Schlag einstecken, als die Wahlkommission dem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan das passive Wahlrecht entzog. Begründet wurde dies mit einem früheren Gerichtsurteil gegen Erdogan nach Paragraf 312 des Strafgesetzbuches (»Aufstachelung zu Hass zwischen Klassen, Sprachen, Religionen und Konfessionen«). Zwar hatte das Parlament diesen Paragrafen Anfang August reformiert. Da jedoch, so die Kommission, das Wahlgesetz unverändert sei, bleibe eine Vorstrafe nach Paragraf 312 ein Ausschlussgrund. Dass das Militär auf diese restriktive Auslegung der Rechtslage Einfluss genommen hat, ist in Ankara ein offenes Geheimnis.

Dennoch führt die AKP, die vom Niedergang der bürgerlichen Rechten profitiert und sich um ein moderates Image bemüht, Umfragen weiterhin mit deutlichem Vorsprung und rangiert bei 25 bis 30 Prozent. Weit unter der Zehnprozentmarke hingegen ist die islamistische Glückseligkeitspartei (SP), deren Vorsitzender Necmettin Erbakan ebenfalls nicht zur Wahl zugelassen wurde.

Auf das größte Missfallen stieß die Liste der Demokratischen Volkspartei (Dehap), einer Partei, die kürzlich aus der prokurdischen Hadep heraus gegründet wurde, um deren möglichem Verbot zuvorzukommen. Gleich 18 ihrer Bewerber, darunter der Hadep-Vorsitzende Murat Bozlak und der Menschenrechtsaktivist Akin Birdal, wurden gestrichen. Die meisten der abgewiesenen Kandidaten sind ebenfalls wegen Paragraf 312 vorbestraft. Bei Ayla Yildirim, der Dehap-Spitzenkandidatin in der Provinz Bursa, genügte schon ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, um sie des parlamentarischen Amtes für nicht würdig zu befinden.

Die Dehap erreicht Umfragewerte von sechs bis acht Prozent. Ihre Suche nach Wahlbündnissen ist, sieht man von zwei kleinen linksgerichteten Parteien ab, erfolglos geblieben. Weder gelang eine Einigung mit der linken Partei für Freiheit und Solidarität (ÖDP) noch mit den islamistischen Ultras von der SP. Die Politiker, die sich für die kurdische Sache engagieren, sind oft mit Verboten konfrontiert, Tabus aber kennt man nicht.

Die Prüfung durch die Wahlkommission weitgehend unbeschadet überstanden haben hingegen die Kandidaten der mitregierenden Faschisten von der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Yilmaz Durak etwa, der 1980 wegen Beteiligung am Mord an Kemal Türkler, dem damaligen Vorsitzenden der linken Gewerkschaftsföderation, verurteilt wurde. Oder Yasar Yildirim, der in den siebziger Jahren die Mordanschläge der Grauen Wölfe koordinierte. Rund 20 vorbestrafte Militante tummeln sich in den Listen der MHP.

Auch die Partei des Rechten Weges (DYP) wartet mit Kandidaten auf, die ihre Laufbahn in den Killerkommandos der Grauen Wölfe begannen. Mit von der Partie ist zudem Sedat Bucak, ein kurdischer Clanchef, der 1996 an dem denkwürdigen Verkehrsunfall von Susurluk beteiligt war. Während Bucak überlebte, starben in seinem Auto ein wegen mehrfachen Mordes gesuchter Faschist, ein hoher Polizeioffizier und eine Schönheitskönigin. In der Folge erschütterten Enthüllungen über die Verstrickungen zwischen dem politischen Personal, dem Sicherheitsapparat und der Mafia das Land. Doch heute erinnert sich die türkische Gesellschaft eher an die Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 als an den Susurluk-Skandal. So kann die DYP-Vorsitzende Tansu Çiller, die damals schweren Vorwürfen ausgesetzt war, durchaus hoffen, mit ihrer Partei als dritte Kraft neben der AKP und der Republikanischen Volkspartei (CHP) ins Parlament einzuziehen.

Sicher ist der Einzug der DYP indes nicht. Als wahrscheinlicher gilt, dass die sozialdemokratische CHP den Sprung schafft. Die Demokratische Linkspartei (DSP) des amtierenden Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und die Partei der Neuen Türkei (YNP) des vormaligen Außenministers Ismail Cem sind hingegen weit von der Zehnprozenthürde entfernt. Die DSP liegt in den Umfragen bei etwa zwei Prozent, ähnlich ergeht es dem dritten Koalitionspartner, der konservativen Mutterlandspartei (Anap) von Mesut Yilmaz.

Überflügelt hat sie eine Partei, die es eigentlich gar nicht gibt: die Junge Partei (GP). Das heißt, bis Anfang Juli gab es die Partei schon, nur trug sie damals den Namen Wiedergeburt und führte ein kaum beachtetes Dasein. Auf ihrem Kongress Anfang Juli geschah etwas, das man allenfalls von Mitgliederversammlungen von Amateurfußballclubs kannte.

Mit Stimmenkauf und Schlägertruppen beschaffte sich dort der Chef des zweitgrößten Medienkonzerns eine Mehrheit und ließ einen früheren Funktionär, dessen Dienste er sich gesichert hatte, zum Vorsitzenden wählen. Die alte Führung wurde abserviert, die Infrastruktur übernommen. Auf einem außerordentlichen Parteitag kurz darauf wurden Name und Statut geändert, und der Strohmann wich dem Mann, der das Ganze eingefädelt hatte - Cem Uzan, einem Spross der sehr vermögenden Uzan-Familie, der unter anderem die Tageszeitung Star und der gleichnamige Fernsehsender gehören.

Seitdem tourt Uzan durchs Land und lässt beliebte Popstars auf seinen Wahlkampfveranstaltungen auftreten. Seine Botschaft: Gott, Vaterland, Reichtum. Unterstützt wird seine Kampagne nicht nur von seinen Medien. Die Handyfirma Telsim etwa, die ebenfalls zur Uzan-Holding gehört, agitiert ihre Kunden per SMS. Die übrigen Kandidaten der GP sind unbekannt und stehen vermutlich auf der Gehaltsliste der Uzan-Holding.

Der verblüffte Rest der türkischen Medien vermutet, dass Cem Uzan die aufwändige und professionelle Kampagne gestartet hat, um sich parlamentarische Immunität zu verschaffen und so den zahlreichen gegen ihn laufenden Strafverfahren zu entgehen. In der Türkei wird gegen ihn wegen Steuerhinterziehung und Betrug ermittelt, in den USA haben Nokia und Motorola Klage eingereicht, weil Uzan sie um insgesamt 2,7 Milliarden Dollar geprellt haben soll. Dass ein als Partei getarnter Konzern sich in den Umfragen auf die Zehnprozentmarke zubewegt, zeigt wie fortgeschritten Elend und Hoffnungslosigkeit in der Türkei sind.

Ob die Wahlen wie vorgesehen am 3. November stattfinden, ist allerdings noch nicht gewiss. 124 Abgeordnete aus verschiedenen Fraktionen, die auf aussichtslosen Listenplätzen kandidieren und deshalb die vorgezogenen Wahlen verhindern wollen, haben einen Antrag auf Verschiebung des Termins eingereicht. Inzwischen unterstützen auch Anap und YTP diese Forderung, weitere Fraktionen könnten hinzukommen. Kaum zu glauben, dass die Abgeordneten in eine Wahl gehen, die die große Mehrzahl von ihnen mit ziemlicher Sicherheit um ihre Privilegien bringen wird. Am Wochenende wollte auch Ministerpräsident Ecevit eine Verschiebung nicht länger ausschließen: »Es passieren so merkwürdige Dinge, alles ist möglich.«