»Möllemann-Effekt«

Sieger sehen anders aus

Trotz ihres Erfolgs kam bei der SPD am Wahlabend keine rechte keine Freude auf. Gejubelt wurde bei den Grünen und der Union, getrauert bei der FDP und der PDS

»Ich werd jetzt noch ein Sektglas öffnen«(Edmund Stoiber, CSU)
Mein Freund, der Anarchist, hat's leicht an Wahlabenden. Ihm ist es egal, wer gewinnt und wer verliert. Er geht nicht zur Wahl und hängt nicht anschließend ab 18 Uhr vorm Fernseher. Denn für ihn ist es eh gleichgültig, wer regiert. Wenn man tatsächlich was ändern wolle, dann müsse man ganz woanders ansetzen.

Im Grundsatz stimme ich dem zu. Und trotzdem kann ich mich der Faszination, die von solchen Events unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgeht, nicht ganz entziehen. Es ist nicht mehr so schlimm, wie zu Beginn der achtziger Jahre, als ich im Alter von zwölf Jahren mit Tränen in den Augen den Wahlsieg Helmut Kohls verfolgte. Denn mit der Erfahrung wachsen der Zynismus und die Erkenntnis, dass mein Freund, der Anarchist, doch meistens Recht hat. Bei der deutschen Wirtschaft sieht man es ähnlich, dem Kapital ist es egal, wer unter ihm regiert.

Für Linke gab's am vergangenen Sonntag jedenfalls nichts zu holen. Egal wer da am Wahlabend auf dem Bildschirm erschien, ich will von keinem dieser Leute regiert werden. Eigentlich will ich überhaupt nicht regiert werden, aber solche Fragen stehen an Wahlabenden ja nicht zur Diskussion. Da wird über anderes debattiert, über die »Sündenböckin« Herta Däubler-Gmelin, den »Fischer-Faktor« oder den »Möllemann-Effekt«.

Möllemann muss man im Übrigen dankbar sein. Denn immerhin hat er dazu beigetragen, dass die Liberalen die großen Verlierer waren. Das Projekt 18 ist gründlich gescheitert, die Zahl sah lustig aus im Hintergrund, als Guido Westerwelle sprach. Die neuerlichen Angriffe Möllemanns »haben uns die Petersilie verhagelt«, sagte Westerwelle. Mit antisemitischer Stimmungsmache sind offensichtlich doch keine Stimmen zu holen.

Und auch eine offene Konfrontation mit den USA zahlt sich nicht aus, wie man am Ergebnis der SPD erkennen kann, die deutlich verlor und am Ende nur 8 864 Stimmen vor der Union lag. Das antideutsche Weltbild müsste nun eigentlich kräftig ins Wanken geraten.

Besonders sympathisch macht das Wahlergebnis den hiesigen Souverän natürlich trotzdem nicht. Oder was soll man von einem Volk denken, das Stoiber für kompetent hält und Fischer zum Lieblingspolitiker wählt? Die Union und die Grünen haben gewonnen, die Grünen etwas mehr, die CDU/CSU etwas weniger, weil es eben doch nicht gelangt hat.

Die einzige Partei, in der man das Wort Sozialismus noch in den Mund nehmen darf, erlebte dagegen ein Debakel, vier Prozent und nur zwei Direktmandate für die PDS. Die beiden Abgeordneten werden ein ziemlich bedeutungsloses Dasein im Bundestag führen. Und Ulla Jelpke und Winfried Wolf sind ohnehin nicht mehr dabei.

Wenigstens gilt das auch für Figuren wie den ab sofort arbeitslosen Fraktionsvorsitzenden der PDS, Roland Claus. Er verkündete, es gelte nun, »Inhalte, Personen und Darstellung« seiner Partei zu überprüfen. Es steht zu befürchten, dass er damit kaum bei sich selbst anfangen wird, noch bei all den anderen Karrieristen wie etwa Helmut Holter, dem stellvertretenden Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern, der bei der dortigen Landtagswahl am Sonntag ebenfalls eine Niederlage für die PDS einfuhr. Die Parteivorsitzende Gabi Zimmer wird nun wohl zum Abschuss freigegeben. Und die Sozialdemokratisierung der demokratischen Sozialisten wird vorankommen.

Die Grünen dagegen haben ihre Marktlücke gefunden und sind nicht nur besser als die FDP geworden, sondern endlich auch die bessere FDP. Wie die Liberalen zu Hans-Dietrich Genschers Zeiten sind sie nun eine Honoratiorenpartei. Die Bhagwanjünger der frühen achtziger Jahre haben ihren neuen Guru gefunden. Wenigstens ist der Wahlkampf jetzt vorbei, und Träger von Joschka-T-Shirts mit verklärtem Blick bleiben einem von nun an erspart. Aber was schlimmer ist, Joseph Fischer bleibt einem erhalten.

Am Ende hat mein Freund, der Anarchist, wieder einmal Recht. Wahlen ändern nichts, oder sie machen alles nur noch schlimmer. Dem Rest der Republik bleibt Edmund Stoiber zwar erspart, er kehrt aber nach Bayern zurück. 58,6 Prozent der Wähler haben ihm hier die Stimme gegeben, im tiefschwarzen Niederbayern sogar fast 70 Prozent.

Die Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen aber werden angesichts ihrer knappen Mehrheit in Zukunft noch geschlossener für den Krieg, den Sozialabbau, die Umverteilung nach oben und den Abbau von Bürgerrechten stimmen. Außerhalb der Parlamente wird sich weiterhin wenig bewegen, da die Grünen nun mit der Abwicklung von Friedens-, Antiatom- und anderen Initiativen fortfahren können. Man müsste ganz woanders ansetzen, sagt mein Freund, der Anarchist. Bloß wo? thies marsen

»Ich will jetzt nicht auf irgendjemand Steine werfen«(Günther Beckstein,CSU)

Es will keine rechte Freude aufkommen unterm Wahlvolk der SPD. Man sammelt sich vorm und im Willy-Brandt-Haus, der Parteizentrale der SPD in Berlin-Kreuzberg. Draußen regnet es in Strömen. Und das macht die Ergebnisse der ersten Hochrechnung nicht erträglicher. Die Union liegt vorne, bei 38,1 Prozent, die SPD kommt auf 37,8. Nur das Abschneiden der Grünen lässt die Sozialdemokraten jubeln.

Dank einer so raffinierten wie undurchsichtigen Partyplanung müssen die Wähler der SPD draußen im Dauerregen bleiben, während sich ausgewählte Parteimitglieder in einem fensterlosen Zeltschlauch tummeln und die Presseleute und die Parteikader das Parteihaus bevölkern. Diese ausgeklügelte Kommunikationsstrategie führt zur Frustration aller, zur totalen Sprachlosigkeit. Die legendäre und nur der SPD zugeschriebene »Nestwärme« stellt sich so nicht ein. Alle gucken fern, um nichts zu verpassen.

Als Bundeskanzler Gerhard Schröder sich zu seinem ersten Auftritt kurz vor 20 Uhr einfindet, brandet Applaus auf. Schröder zitiert »einen meiner Altvorderen«, den ersten Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer (CDU): »Mehrheit ist Mehrheit, und wenn wir sie haben, werden wir sie nutzen.« Halb verfällt er ins Predigen, halb ins Resümieren: »Ich finde, wir haben einen guten Kampf gekämpft ... Dass eine Politik weitergeht, die eine Gerechtigkeit schafft, zwischen den Interessen der Wirtschaft einerseits, und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern andererseits ... Wir haben keinen Grund, uns zu verstecken. Es gibt überhaupt gar keinen Grund zur Resignation ... Und nun warten wir mal ab.«

Mit diesen Beschwörungsformeln und einem staatsmännischen Lächeln möchte der Genosse der Bosse noch einmal die Erinnerungen an die Aufbruchstimmung der letzten Bundestagswahl von 1998 auffrischen. Ohne Erfolg. Es klingt eher nach einer Abschiedsrede.

Die Anwesenden reagieren gar nicht darauf. Die Behauptung, dass in den vergangenen vier Jahren eine Politik der sozialen Gerechtigkeit stattgefunden habe, wird weder mit Beifall noch mit Achselzucken aufgenommen. Niemand will um diese Uhrzeit und bei diesem Stand der Hochrechnungen Schröders Traumreise folgen.

Von dem »spannendsten Wahlabend seit der Gründung der Republik«, von dem im Fernsehen die Rede ist, spürt man hier nichts. Als sich das Blatt langsam zu wenden beginnt und eine hauchdünne rot-grüne Mehrheit möglich scheint, gibt es einzelne »Ja!«-Rufe. Nicht einmal als das ZDF um 21.30 Uhr verkündet, dass die SPD wohl fünf Überhangmandate bekommt, steigt die Stimmung.

Nur die Wahlergebnisse der Grünen werden freudig aufgenommen. Es scheint, als habe sich die Regierungspartei totgelaufen. Das Reformprojekt wird nur noch mit dem Koalitionspartner verbunden. Der Machterhalt wird befriedigt, aber vollkommen leidenschaftslos zur Kenntnis genommen. Es geht ums Durchwursteln ohne jede Ambition, das Kohlsche Aussitzen ist angesagt. Der alte Schwung ist dahin, der Lack ab. Auch die sich verbessernden Prognosen ändern daran nichts. Einer der umstehenden Presseleute bekommt eine SMS-Nachricht von seinen Kollegen, die sich bei den Grünen befinden: »Im Tempodrom tobt die Party.« Und er flucht laut: »Scheiße, was machen wir hier, warum sind wir nicht dort!«

Doch eine Stunde nach Mitternacht kommt auch in der SPD-Zentrale wider Erwarten noch einmal Stimmung auf. Schröder und Fischer treten gemeinsam auf und verkünden, dass sie die rot-grüne Koalition fortsetzen wollen. Der Sieg ist unter Dach und Fach. Applaus für Gerd, aber noch viel mehr Applaus für Joschka. »Vorsicht, der ist gefährlich«, warnt der Kanzler seine Parteifreunde scherzend. Und dann wird doch noch gefeiert. philipp steglich

»Wir haben es nicht geschafft, die Duftnote PDS so zu setzen, dass sich bei den Wählern zum Tragen gekommen ist«(Angelika Gramkow, PDS)

Dietmar Bartsch hatte es wirklich nicht erwartet. Man sah es ihm an. Als der Bundesgeschäftsführer auf der Wahlparty der PDS in der Berliner »Arena« die Bühne betrat, um die Niederlage der PDS einzugestehen, wirkte er wie versteinert. Die meisten Prominenten der PDS versteckten sich im VIP-Bereich und zeigten sich nur zu kurzen Stellungnahmen auf der Bühne.

So auch Gregor Gysi, dessen Auftritt geradezu gespenstisch wirkte. Bildet sein Erscheinen normalerweise den Stimmungshöhepunkt jeder Parteiveranstaltung, so wurde dem Medienstar diesmal ein fast schon feindseliger Empfang bereitet. Nicht wenige machen Gysis Rücktritt vom Amt des Berliner Wirtschaftssenators für die verheerende Wahlniederlage verantwortlich. Einzelne Buhrufe, wenig Applaus. Den einzigen nennenswerten Beifall gab es, als Gysi einräumte, auch sein eigenes Verhalten sei eine mögliche Ursache des Scheiterns gewesen.

Doch auch die Parteivorsitzende Gabi Zimmer wurde nicht gerade umjubelt. In den nächsten Wochen muss mit einem erbitterten Machtkampf gerechnet werden. Nicht nur die Stalinisten der Kommunistischen Plattform werden versuchen, ihren Einfluss auszuweiten. Auch der Teil der Partei, der aus der PDS gerne eine ostdeutsche Regionalpartei ohne linkes Programm machen würde, wie die Dresdner Politikerin Christine Ostrowski, wittert nun eine Chance. Zwar ist diese Strömung nicht organisiert, aber sie verfügt über eine größe Anhängerschaft.

Zudem wird es die PDS auf absehbare Zeit noch schwerer haben mit ihrem Aufbau West. Mit den westdeutschen Bundestagsabgeordneten, ihren Wahlkreisbüros und den von der Bundestagsfraktion abhängigen Regionalbüros wird im Westen die komplette Infrastrukur der Partei verschwinden. Von ein paar Mandaten in wenigen Kommunalparlamenten abgesehen, dürfte die Wahrnehmung der PDS in den alten Bundesländern künftig gegen null gehen. Doch der Ruf, eher eine ostdeutsche denn eine sozialistische Partei zu sein, ist nicht für jeden Genossen eine Schreckensvorstellung.

Dass ausgerechnet die als Zonengabi verspottete Vorsitzende Zimmer dieses Dilemma aufzulösen vermag, darf bezweifelt werden. Auf dem Bundesparteitag Mitte Oktober in Gera könnte es daher zu größeren personellen Veränderungen kommen. Der komplette Vorstand mit allen seinen Ämtern steht zur Wahl, und Zimmers Stand ist mehr als schlecht. Ihr einziger Vorteil ist das Fehlen einer Alternative für das Amt der Parteivorsitzenden. Außer Bartsch gibt es keine renommierte Persönlichkeit, der diese Aufgabe zugetraut wird. Aber auch er steht nicht gerade für einen Generationswechsel, den immer mehr Mitglieder der PDS fordern. Und nicht zuletzt trägt auch der Bundesgeschäftsführer Verantwortung für den missglückten Wahlkampf.

Als Trost blieb der PDS nur das Ergebnis der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Dort büßte die Partei zwar über sechs Prozentpunkte ein, sie bleibt jedoch weiter in der Regierung. Auch die beiden Direktmandate für den Bundestag, die im Osten Berlins gewonnen wurden, dürften der PDS so etwas wie ein Seelenbalsam sein. Was zwei einzelne Abgeordnete im Bundestag ausrichten können und ob sie überhaupt eine Medienöffentlichkeit herzustellen vermögen, ist allerdings mehr als fraglich.

Verbitterung löste bei einigen Berliner Genossen auch das gewonnene Direktmandat des Grünen Christian Ströbele im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg aus. Schließlich hatte er seinen Wahlkampf vor allem gegen die PDS geführt und sich zugleich als linkes Gewisssen der Grünen präsentiert. Hätte er auf eine Kandidatur verzichtet, hätte möglicherweise die PDS in dem Bezirk ihr drittes Direktmandat geholt und säße in Fraktionsstärke im Parlament.

Die PDS steht nun vor einer wichtigen Entscheidung. Die wenigen übrig gebliebenen Vertreter einer jungen Generation der antiautoritären Linken haben nicht mehr den Elan, sich an den bevorstehenden Machtkämpfen zu beteiligen. Deshalb werden sich in der PDS nun wohl die Sozialdemokraten wie Bartsch, Holter und Gysi durchsetzen, der nationalbolschewistische Flügel oder die Anhänger einer ostdeutschen Volkspartei. Wobei die beiden zuletzt Genannten gut zueinander passen, was vielleicht das Bedrohlichste ist. ivo bozic

»Es hat uns die Petersilie verhagelt«(Guido Westerwelle, FDP)

Im Festzelt am Thomas-Dehler-Haus, der Parteizentrale der FDP, riecht es nach gebratenem Fleisch. Doch der Appetit der Anhänger des »Projektes 18« hält sich in Grenzen. Die Stimmung ist mies. Minus 18 Grad. Mindestens.

Um 18 Uhr fällt das Thermometer der FDP ins Bodenlose, bestürzende sieben Prozent meldet die ARD in ihrer ersten Hochrechnung. Der versammelte Mittelstand stöhnt auf. »Jetzt wird Möllemann gegrillt«, höhnt ein jungdynamischer Freidemokrat mit blauer Krawatte. Von einem »Desaster« ist an den Sekttischen die Rede. Die wie Wachsfiguren herumstehenden jungen Liberalen mit den albernen »18 Prozent«-Ansteckern am Revers versuchen zu grinsen. Doch es gelingt ihnen nicht.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass die FDP die große Verliererin der Wahl ist. Der »Kanzlerkandidat« Guido Westerwelle ist gescheitert und sein stellvertretender Vorsitzender Jürgen W. Möllemann erledigt. Als Westerwelle, mit trotzigen »Guido, Guido«-Rufen begrüßt, vor die Mikrofone in der Berliner Parteizentrale tritt, versammelt sich die gesamte Parteiführung um ihn. Nur einer fehlt: Möllemann.

Mit betretener Miene verkündet Westerwelle, das Ziel sei nicht erreicht, doch es gehe weiter, die »erste Liga« bleibe das Ziel der Partei. Die unschöne Debatte um »ein Mitglied« des Präsidiums habe dem Projekt augenscheinlich »nichts genutzt«. Für den Alleingang des nicht namentlich genannten Möllemann sei »unerfreulich« noch die höflichste Bezeichnung, sagt Westerwelle. Mit frenetischem Applaus quittiert die Menge die Bekanntgabe, das Präsidium habe Möllemann den Rücktritt nahe gelegt. Den vollzieht der Gescholtene schließlich am Montag.

Bis zum Schluss bediente Möllemann das antisemitische Ressentiment. Er werde es sich von Michel Friedman nicht verbieten lassen, die Politik des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon als kriegstreiberisch zu »brandmarken«. Einen gelben Handzettel mit Angriffen auf Sharon und Friedman ließ er an fünf Millionen Haushalte in Nordrhein-Westfalen verteilen, ohne es mit der Parteiführung abzusprechen.

Westerwelle glaubte da womöglich immer noch daran, dass er Kanzler werde, und versuchte sich schon mal im Aussitzen. Doch die Stimmung in der Partei kippte um, und er sah sich gezwungen, den gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit Möllemann in Bad Godesberg abzusagen. Trotzdem blieb der Verdacht der stillschweigenden Komplizenschaft.

Aber auch die restliche FDP empörte sich nur scheinheilig über Möllemann. Man spekulierte bis zuletzt darauf, dass er Stimmen für das »Projekt 18« holte. Erst am vergangenen Freitag schloss man es plötzlich doch nicht mehr aus, Möllemann am Tag nach der Wahl zum Rücktritt aufzufordern. Das Ergebnis wollte man noch abwarten. Hätte ja sein können ...

Doch der erhoffte Zulauf rechter Wähler blieb aus. Bis zuletzt bestritt Möllemann, rechte Wählerstimmen gewinnen zu wollen. »Leute, die mit Glatzen rumlaufen«, fänden »liberale Standpunkte durch die Bank überhaupt nicht attraktiv«. Es sei das »breite Publikum der bürgerlichen Mitte«, das sich für seine Sicht der Nahostpolitik interessiere. Es kann als die große positive Überraschung der Wahl angesehen werden, dass er damit falsch lag. jan süselbeck

»Die Lage ist verzwickt«(Ulrich Wickert, ARD)

Eine kleine Jahrhundertflut zur rechten Zeit, die verschwommenen Konturen des Gegenkandidaten sowie die Ideen des Herrn Hartz haben die rot-grüne Koalition gerade noch einmal aus der schier hoffnungslosen Lage befreit, in die sie durch die zur Unzeit abgesoffene Weltkonjunktur und das leichtfertig ausgegebene Kanzlerversprechen, die Zahl der Arbeitslosen unter vier Millionen zu drücken, geraten war.

Auf seine Weise war dieser Wahlkampf sogar spannend. Freilich nicht, weil es um eine großartige historische Entscheidung gegangen wäre. Dass Schröder und Stoiber in der Sache noch enger beieinander liegen als ihre Namen im Telefonbuch, weiß jeder. Deutschland hat über die Amerikanisierung der Politik gemäkelt, um ihr selbst auf den Leim zu gehen.

Nicht nur der Form, auch dem Inhalt nach ist der politische Meinungsstreit endgültig zur Kopie der Konkurrenzkämpfe in der Waschmittelindustrie verkommen. Die Schaffung einer Produktidentität und der Versuch, doch irgendwelche Differenzen zu erfinden, um Profil zu gewinnen, standen im Vordergrund. Das wichtigste Thema der letzten Wahlkampfwochen, der bevorstehende Krieg gegen den Irak, fällt genauso in diese Rubrik wie die bescheidenen kulturellen Errungenschaften von Rot-Grün. Auch ein Kanzler Edmund Stoiber hätte kaum die Homoehe abgeschafft oder die durchgängige Orientierung des Staatsbürgerschafts- am Blutsrecht wieder hergestellt.

Ist das Grund genug für die Linke, schulterzuckend zur Tagesordnung überzugehen in Erwartung eines Business as usual? Nicht unbedingt. Die Streitigkeiten innerhalb der politischen Klasse sind nichtig, alles andere als nichtig ist jedoch, worüber sich die »Gemeinschaft der Demokraten« völlig einig ist. Die Wahlkampfzeit hat überdeutlich gemacht, welche Richtung die deutsche Politik angesichts der derzeitigen ökonomischen Einbrüche und politischen Umbrüche nimmt.

Ein Schlaglicht auf das, was da kommen mag, wirft vor allem die Pleite der Mobilcom AG. Nach dem Motto: »Bloß keinen Großkonkurs vor der Wahl«, nötigt die Bundesregierung die bundeseigene Bank für Wiederaufbau, den Bankrott des Telekommunikationskonzerns mit einem Kredit von 400 Millionen Euro fürs Erste aufzuschieben. Damit werden Tausende Euro pro Arbeitsplatz unwiederbringlich in den Sand gesetzt und gleichzeitig wird die damit steigende Staatsverschuldung statistikneutral versteckt.

Während der ersten Hälfte seiner ersten Amtszeit konnte Schröder noch darauf hoffen, dass der Staat indirekt am Börsenboom partizipiert. Jetzt setzen die Regierung und die Opposition die Sozialisierung und die Kaschierung der vielen Miesen auf die Tagesordnung, die von den geplatzten Träumen geblieben sind. Die Bundesrepublik schwenkt damit auf den Weg ein, den Japan schon vor zehn Jahren eingeschlagen hat.

Der Skandal um die gefälschten Vermittlungszahlen der Bundesanstalt für Arbeit hat zudem den zweiten Arbeitsmarkt zur Disposition gestellt. Von der Fiktion, geschützte Beschäftigung sei mehr als ein Zwischenlager für das im Sinne kapitalistischer Verwertung überflüssige Menschenmaterial, hat sich die politische Klasse aber nur verabschiedet, um die Beschäftigungsgesellschaft einer neuen Illusion gemäß umzugestalten. Der Angriff auf alle sozialen Standards soll den ersten Arbeitsmarkt in die Lage versetzen, die Funktion des zweiten zu übernehmen. Erst damit dürfte aber der volle terroristische Gehalt der Parole »Arbeit, Arbeit, Arbeit« zum Vorschein kommen. ernst lohoff