Wahlkampf in der Türkei

Güle, güle Atatürk

Selbst kapital- und staatsnahe Kräfte hoffen auf einen Wahlsieg der zersplitterten türkischen Sozialdemokratie, um einen Erfolg der Islamisten zu verhindern.

Die Welt steht Kopf. Seit für den 3. November vorzeitige Neuwahlen anberaumt wurden, beschäftigen sich Industriellenverbände wie staatstreue Kolumnisten vornehmlich mit einem Thema: Wie ist die Einheit der Linken herzustellen? Wie ist zu gewährleisten, dass die Sozialdemokratie siegreich aus den Wahlen hervorgeht? Man macht sich Sorgen, dass die Ak Parti (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) unter der Führung von Tayyip Erdogan, die aus der islamistischen Bewegung hervorgegangen ist, die Wahlen gewinnen könnte.

Denn dem ehemaligen Bürgermeister Istanbuls ist es gelungen, konservative und bürgerliche Kreise an sich zu binden. Seine Partei gibt sich moderat, will einen Konflikt zwischen Säkularen und Gläubigen vermeiden, geht auf Versöhnungskurs gegenüber den USA und erklärt, dass sie mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammenarbeiten werde.

Dennoch trauen die Kapitalverbände den angeblich geläuterten Islamisten nicht. Die Türkei steht wirtschaftlich am Abgrund. Würde Erdogan zum Ministerpräsidenten gewählt, könnten die Märkte das Land mit argentinischen Verhältnissen strafen. Da sich zugleich die Parteien der bürgerlichen Mitte, allen voran die Anap (Mutterlandspartei), in einem Zersetzungsprozess befinden, scheint die Sozialdemokratie die einzige Alternative.

Aber auch sie bietet ein jämmerliches Bild. Die DSP (Demokratische Linkspartei) ist kaum noch als Partei zu bezeichnen. Ihre einzige Existenzgrundlage ist Bülent Ecevit, der wohl noch bis zu den Wahlen als Ministerpräsident der gegenwärtigen Koalitionsregierung vorstehen wird. Der 76jährige Ecevit, der keine Rede mehr halten kann, ohne sich andauernd zu versprechen, hat gemeinsam mit seiner Ehefrau Rahsan die Partei so autoritär geführt, dass Anfang Juli Minister und Abgeordnete massenhaft austraten. Dieser Exodus erst führte zur Koalitionskrise und den vorgezogenen Neuwahlen. Meinungsforscher prognostizieren, dass die DSP nicht mehr als zwei Prozent der Stimmen erhalten und also die Zehnprozenthürde nicht überspringen werde.

Die vom ehemaligen Außenminister Ismail Cem angeführten DSP-Dissidenten haben eine neue Partei gegründet, die YTP (Partei der Neuen Türkei). Sie steht der europäischen Sozialdemokratie erheblich näher als die DSP. Bezeichnend ist eine Aussage des Journalisten Rusen Çakir, der unmittelbar nach seinem Eintritt in die Partei verkündete: »Die Linke ist im Begriff, nicht mehr die Bewegung der Armen zu sein. Sie wendet sich den städtischen Schichten, den gebildeten Mittelklassen zu. Dieses Potenzial hat mich zu Ismail Cem geführt.« Dass er mit dieser Einschätzung richtig liegt, zeigte Cems Rückkehr aus Berlin, wo er sich in der vergangenen Woche mit Bundeskanzler Gerhard Schröder traf. Ein Konvoi von etwa 5 000 Autos - mehrheitlich der gehobenen Mittelklasse - erwartete ihn am Flughafen.

Die größten Chancen werden aber einer anderen sozialdemokratischen Partei eingeräumt, nämlich der CHP (Republikanische Volkspartei) und deren Vorsitzendem Deniz Baykal. Die Partei Mustafa Kemals, dem später der Ehrentitel Atatürk verliehen wurde, ist so alt wie die türkische Republik.

Als Staatspartei der Beamten, Militärs und der städtischen Elite regierte sie das Land bis 1950 und legte die Fundamente des türkischen Staates. Der Laizismus, die radikale Trennung von Staat und Religion, wurde nicht nur im Parteiprogramm, sondern auch in der Verfassung verankert. Auch die »Einheit der Nation«, die in der Assimilierungspolitik gegenüber den Kurden ihren Ausdruck fand, geht auf die CHP zurück. Mit dem etatistischen Grundsatz schließlich wurde die Ökonomie der staatlichen Kontrolle und Intervention unterworfen.

Anfang der siebziger Jahre war es Bülent Ecevit, der mit dem Schlagwort der »linken Mitte« die Partei zur Sozialdemokratie öffnete. Doch die ideologischen Essentials der Staatspartei - ob in der Wirtschaftspolitik oder in der Kurdenfrage - blieben erhalten. Erst in den neunziger Jahren begann die CHP, ihre Positionen zu wandeln.

In den letzten Wochen buhlten alle sozialdemokratischen Parteien um die Gunst eines Mannes: Kemal Dervis, einst Vizepräsident der Weltbank, der nach dem wirtschaftlichen Kollaps im Frühjahr 2001 ins Land geholt wurde. Als parteiloser, aber mit umfassenden wirtschaftspolitischen Kompetenzen ausgestatteter Minister konnte er beim IWF neue Auslandskredite beschaffen und verhindern, dass ein Moratorium, das den Zusammenbruch des türkischen Kapitalismus bedeutet hätte, ausgerufen wurde. Mit 116 Milliarden Dollar Auslandsschulden und einer immensen Inlandsverschuldung gehört die Türkei zu den schwächsten Staaten im Weltfinanzsystem.

Mit einer strikten Austeritätspolitik, der Senkung staatlicher Ausgaben und der Sanierung des Bankenwesens ging Dervis ans Werk. In der Folge verarmten weite Kreise der Bevölkerung. Doch Dervis wurde als Mann gefeiert, der die gefürchteten »argentinischen Verhältnisse« verhinderte. Obwohl er für das Austeritätsprogramm verantwortlich zeichnete, ist er in der Bevölkerung sehr beliebt. Schließlich gehört er nicht zu den Politikern, die über Jahre hinweg den Bürgern eine fiktive Welt vorgegaukelt, mit Krediten und der Notenpresse Wählerstimmen gekauft und den Krieg in den kurdischen Regionen finanziert haben.

In der vergangenen Woche entschied sich Dervis für die aussichtsreichste unter den sozialdemokratischen Parteien, nämlich für Baykals CHP. Mit der Aufnahme des ehemaligen Wirtschaftsministers hat sie sich vom staatlichen Interventionismus in der Ökonomie verabschiedet. Noch vor kurzem kritisierten CHP-Politiker die »Kapitulationspolitik gegenüber dem IWF«. Das dürfte der Vergangenheit angehören. Denn Dervis hat nicht nur die CHP und die sozialdemokratische Konkurrenz auf den Markt eingeschworen, sondern auch fast alle anderen relevanten Parteien des Landes. Was auch immer bei den Wahlen geschieht, das Abkommen mit dem IWF wird unberührt bleiben.

Die Türkei bietet ein Exempel dafür, wie schwer es eine Linke, die den Kapitalismus und die Globalisierung kritisiert, in einem Land hat, das sich in einer existenziellen Krise befindet. Einen Ausstieg der Türkei aus dem Weltmarkt und dem Weltfinanzsystem zu fordern, mutet in dieser Lage abenteuerlich an.

Die ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität), die einst als pluralistische neue Linke angetreten ist, hat sich mittlerweile in Flügelkämpfen dezimiert. Der verbliebene Rest sucht nach einem sozialdemokratischen Wahlbündnis. Die kurdische Hadep (Demokratiepartei des Volkes), die früher wiederholt staatlicher Repression ausgesetzt war, erhebt zwar den Anspruch, für die Probleme des gesamten Landes Lösungen zu bieten. Tatsächlich ist sie aber zu einem Interessenverband auf ethnischer Grundlage geschrumpft. Sie freut sich über Liberalisierungen in der Kurdenfrage und will mit ihren rund sechs Prozent - laut Umfragen verfügt die Hadep über die stabilste Wählerbasis - ins Parlament einziehen. Um die Zehnprozenthürde zu nehmen, ist sie zu jedem Wahlbündnis bereit - ob mit Sozialdemokraten oder den traditionellen Islamisten der Saadet Partisi.

So bleibt die Kapitalismuskritik in den Händen dubioser Figuren wie Dogu Perincek, des Vorsitzenden der IP (Arbeiterpartei). Der ehemalige Maoist, der die Putschgeneräle von 1980 rühmte, später zum Duzfreund des PKK-Führers Abdullah Öcalan avancierte, sich dann wieder als Kurdenfeind und eifrigster Sprecher des türkischen Generalstabes profilierte, betreibt heute gemeinsam mit den Faschisten Kritik an der Annäherung der Türkei an die EU und den IWF.

Die Verschwörungstheorien der IP sind grenzenlos. Der Mossad und die CIA finanzierten Dervis und seien für die vom türkischen Parlament verabschiedeten demokratischen Reformen verantwortlich, die kurdischsprachigen Unterricht ermöglichten. So würden die »kurdischen Bürger von der Türkei getrennt« und in die Arme des »imperialistischen Westens« getrieben.

Eine antikapitalistische Linke tritt bei den Wahlen nicht an. Sie entscheiden vielmehr darüber, welches politische Management in Zeiten der Krise das Ruder übernimmt. Es ist und bleibt ein undankbarer Job.