Geplante Abschiebung tschetschenischer Flüchtlinge

Lieber auf den Mond

Trotz der Warnungen von Menschenrechtsorganisationen will der rot-rote Berliner Senat tschetschenische Flüchtlinge abschieben.

Das Flüchtlingsheim in Weißensee ist ein ausrangierter Plattenbau. Am Eingang kontrolliert der Pförtner die Ausweise. In zwei kleinen Zimmern lebt hier Isa A. mit seiner Familie. Der tschetschenische Arzt floh vor einem Jahr aus Moskau nach Deutschland. Er kam illegal. Es gab keine andere Möglichkeit. Den Schleusern gab die Familie alles, was sie besaß. »Das ich illegal gekommen bin, ist das einzige Verbrechen, das ich in meinem Leben begangen habe«, betont A.

Seine erste Flucht war es nicht. Nachdem die Wohnung in Grosny zerbombt und Isa A. im ersten Tschetschenien-Krieg bei einem Krankentransport von einer russischen Splitterbombe verwundet worden war, floh die Familie 1997 nach Moskau. Hier war sie Repressionen ausgesetzt: ständige Ausweiskontrollen und Wohnungsdurchsuchungen. Weil er sich neben seiner Arbeit im Krankenhaus politisch für sein Herkunftsland einsetzte, wurde Isa A. vom russischen Geheimdienst verhaftet. Man verhörte ihn und bedrohte ihn mit dem Tod. »Jeder, der gegen den Krieg ist«, sagt er, »ist für die russische Miliz ein Terrorist.« In Deutschland glaubte er mit seiner Familie in Sicherheit zu sein. Aber sein Asylantrag wurde als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt.

In Berlin ist ein solcher Bescheid zur Zeit die Regel. Etwa 200 bis 250 tschetschenische Flüchtlinge leben in der Stadt. Bis Ende Juni des vergangenen Jahres wurden über ihre Asylanträge keine Entscheidungen gefällt. Dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, das sich an Berichten des Auswärtigen Amtes orientiert, war bis zu diesem Zeitpunkt die Lage in Tschetschenien zu unübersichtlich. Aber der Entscheidungsstopp wurde zum Juli 2001 aufgehoben.

Seit den Anschlägen in den USA vom 11. September hat sich die Situation in Tschetschenien noch verschärft; Organisationen wie amnesty international berichten über vermehrte Menschenrechtsverletzungen. Doch das Auswärtige Amt kann keine akute Gefährdung der Flüchtlinge feststellen. Für alle, die sich nicht politisch betätigt hätten, bestehe eine »innerstaatliche Fluchtalternative«. Damit ist gemeint, dass sie außerhalb Tschetscheniens an jedem anderen Ort in der Russischen Förderation unbehelligt leben könnten.

Seit Anfang dieses Jahres erhalten immer mehr Tschetschenen Ablehnungsbescheide. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie abgeschoben werden. Die Flüchtlinge in Berlin haben Angst, denn nach ihren Informationen verschwinden abgeschobene Landsleute meist direkt nach ihrer Ankunft in Russland, sie werden in der Regel schon am Flughafen verhaftet. Aktuelle Berichte von Memorial, einer anerkannten russischen Menschenrechtsorganisation, und amnesty international sowie die UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002 belegen die Verfolgung von Tschetschenen in der ganzen Russischen Föderation wegen ihrer Nationalität.

Um die drohenden Abschiebungen zu verhindern und sich gegenseitig bei ihren Asylverfahren zu unterstützen, gründeten einige Tschetschenen in Berlin vor ein paar Monaten das Tschetschenische Solidaritätskomitee. Trotz einer Demonstration am 16. April und des Hungerstreiks der bis dahin sechs Abschiebehäftlinge konnten sie nicht verhindern, dass Tamerlan Alimachnov am 25. April abgeschoben wurde. Die für den 7. Mai vorgesehene Abschiebung von Rustam Arzujew aber wurde mit Hilfe einer urgent action von amnesty international gestoppt.

Unterstützung erhält das Komitee von der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft, die 1996 aus Protest gegen den ersten Tschetschenien-Krieg in Berlin gegründet wurde. Ihr Vorsitzender, Ekkehard Maas, beschreibt die Situation in Tschetschenien so: »Das russische Militär setzt international geächtete Massenvernichtungswaffen wie Splitter-, Vakuum- oder Aerosolbomben gegen die Zivilbevölkerung ein. 80 Prozent der Wohnungen in Tschetschenien sind inzwischen zerstört und Tausende Menschen getötet worden. Hundertausende sind in den Nachbarstaat Inguschetien geflohen, um den Säuberungsaktionen des russischen Militärs zu entgehen, aber Angehörige des tschetschenischen Volkes werden nicht nur in Tschetschenien, sondern in der gesamten Russischen Föderation willkürlich verhaftet, diskriminiert, gefoltert und haben keine Garantie der elementarsten Bürgerrechte, nicht einmal des Rechtes auf Leben.«

Maas beschuldigt das Auswärtige Amt, seine Lageberichte bisher bewusst allgemein gehalten zu haben. Nachweise über die Guppenverfolgung tschetschenischer Flüchtlinge in Russland würden nicht zur Kenntnis genommen.

Auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) vertritt in ihrer Presseerklärung vom 1. Mai 2002 die Auffassung, die verharmlosenden Berichte des Auswärtigen Amtes lieferten dem Bundesamt und den Verwaltungsgerichten Argumente für ihre Ablehnungsbescheide. Die Ursache für die Verfahrensweise der Behörden liegt nach Ansicht von Maas in der deutschen Außenpolitik: »Deutschland kann die Tschetschenen nicht als Flüchtlinge anerkennen, denn damit müsste auch der Kriegsstatus anerkannt werden.« Und das würde die außenpolitischen Beziehungen zu Russland empfindlich stören.

Memorial belegt eine wachsende antidemokratische Entwicklung in der russischen Föderation. Erst Ende 2001 verschärfte das russische Parlament, die Duma, das Pressegesetz und das Gesetz »über die Terrorbekämpfung«. Seitdem können Berichte über die Verbrechen russischer Truppen in Tschetschenien und Interviews mit tschetschenischen Soldaten oder Zivilisten als »Propaganda« und »Rechtfertigung des Terrorismus« eingestuft und verboten werden.

Menschenrechtsorganisationen fordern einen sofortigen Abschiebestopp für tschetschenische Flüchtlinge. In Berlin konnte das Tschetschenische Solidaritätskomitee immerhin einen kleinen Erfolg erzielen. Das Abgeordnetenhaus beschloss am 27. Mai, Tschetschenen in den nächsten sechs Monaten nur dann abzuschieben, wenn festgestellt werden kann, dass sie Angehörige in der russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens haben, die sie aufnehmen können. Da das nur schwer nachzuweisen ist, wird de facto zur Zeit nicht abgeschoben.

Druck von außen war der Grund für den Beschluss. Neben vielen Gesprächen mit Flüchtlingsorganisationen war wohl ein Schreiben des Menschenrechtsausschusses des Bundestages vom 15. Mai an Innensenator Ehrhart Körting (SPD) ausschlaggebend. Darin wurde er aufgefordert, einen generellen Abschiebestopp auszusprechen, bis sich die Situation in Tschetschenien wesentlich verbessert hat. Dazu konnte sich das Berliner Abgeordnetenhaus allerdings nicht durchringen. Stattdessen gab es nur einen Aufschub der vorgesehenen Abschiebungen um ein paar Monate.

»Wo sollen wir denn hin?«, fragt Isa A. »Wir würden auf den Mond fliehen, wenn wir nur könnten.« A. und seine Frau haben vor zwei Monaten ihr drittes Kind bekommen. »Schon immer haben wir uns ein drittes Kind gewünscht«, erzählt er, »aber in Russland hätten wir es nicht verantworten können. Wir waren uns so sicher, dass wir in Deutschland Asyl bekommen. Jetzt ist noch ein Leben in Gefahr.« Suliman wird acht Monate alt sein, wenn die Frist abläuft. In Russland hat er keine Zukunft. In Deutschland auch nicht.