Zur Bedeutung der Aufklärung

Begierde der Kritik

Der 14. Juli ist der Feiertag der Aufklärung. Ihre Ideen sind heute die Stammesreligion der Weltmarktzentren. Emanzipation kann sich nur dagegen durchsetzen.

Kaum ein historisches Ereignis hat das Abendland derart nachhaltig gespalten wie die Französische Revolution. Für die Zeit nach diesem Urknall lässt sich die Ideologiegeschichte der Warengesellschaft als ein beständiges Gegeneinander von Aufklärung und Gegenaufklärung, von Rationalismus und Irrationalismus, beschreiben. Noch die »Deutsche Revolution« von 1933 definierte sich in entschiedener Frontstellung zu den Ideen von 1789.

Die Linke fand seit jeher ihren Platz am Pol der Aufklärung, und dementsprechend fiel auch ihre Vorstellung von der Überwindung der herrschenden Ordnung aus. Die bürgerliche Gesellschaft, so eine bis heute bemühte Argumentationsfigur, sei bei der formellen Gleichheit stehen geblieben. Die Linke mache dagegen ein über die kapitalistische Gesellschaft angeblich hinausweisendes, in den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Menschenrecht enthaltenes Versprechen universeller Emanzipation geltend. Die Kritik der Grundprinzipien der Warengesellschaft blieb jedenfalls der Reaktion überlassen.

Im Unterschied zu ihren Vorgängern hat die nach dem Epochenbruch von 1989 entstandene Neue Rechte den alten Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung hinter sich gelassen und schwört auf Demokratie und Menschenrecht. Es greift zu kurz, diese späte Aussöhnung mit den Ideen von 1789 als bloßes taktisches Manöver abzutun. Die Herrschaften haben vielmehr instinktiv erkannt, in welche Funktion Menschenrecht und Gleichheit im bereits in der Barbarisierung begriffenen globalen Kapitalismus hineinwachsen. Die westlichen Werte mutieren zur Stammesreligion der Weltmarktzentren. Freiheit und Recht legitimieren gleichzeitig den globalen Herrschaftsanspruch der USA und Europas und den Ausschluss des für die Wertverwertung überflüssigen, fremden Humanmaterials aus der Weltmarktmenschheit.

Diese Entwicklung ist keineswegs als Entartung, sondern als Entpuppung zu verstehen. Mit dem Universalismus der westlichen Werte war es noch nie weit her. Ausschluss, Gewalt und Unterdrückung stehen nicht im Widerspruch zu Vernunft, Recht, Freiheit und Gleichheit, sondern sie sind diesen Prinzipien eingeschrieben, und ihr Endsieg macht das unübersehbar.

Die in der Proklamation allgemeiner Menschenrechte angelegte Ausschluss- und Vernichtungslogik machte schon Hannah Arendt vor einem halben Jahrhundert zum Thema. Untrennbar an die Instanz des Staates gebunden, so ihre zwingende Argumentation in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, kann Recht und Menschenrecht keineswegs universelle Gültigkeit zugeschrieben werden. Wo Menschen ihren Staatsbürgerstatus verlieren, fallen sie per se aus dieser Ordnung heraus, und damit - wie das Schicksal der aus jeder nationalstaatlichen Gemeinschaft herausdefinierten europäischen Juden am grauenhaftesten dokumentiert - aus dem Menschengeschlecht überhaupt.

Arendt hatte das zu ihrer Zeit neuartige Phänomen der Staatenlosen und Flüchtlinge vor Augen. Aber nicht nur dieses Problem hat eine nie gekannte Brisanz gewonnen; gleichzeitig sind ganze Weltregionen dabei, zu staatenlosen Claims von Warlords zu werden. Bezogen auf diese Territorien, läuft der Appell an die allgemeinen Menschenrechte nicht einfach nur ins Leere, er zieht vielmehr eine Grenze zwischen den zur Menschheit gehörenden Menschen und anderen Hominiden.

Zu Beginn der Aufklärungsepoche war der repressive Charakter der neuen Ideen kein Geheimnis. Der Paranoiker und Gründungsvater der Staatstheorie, Thomas Hobbes, war im 17. Jahrhundert noch so frei, das Prinzip der Gleichheit unmittelbar aus Gewalt und Totschlag abzuleiten. Der bekennende Zwangsneurotiker Immanuel Kant machte unmissverständlich klar, was unter Freiheit zu verstehen ist: Freiheit von jeder sinnlichen Regung und die gewaltsame Reduktion des Menschen auf eine abstrakten Regeln folgende Vernunft.

Am Ende eines langen Weges tritt der durch und durch destruktive und repressive Charakter der westlichen Werte offen zutage. Wäre es nicht an der Zeit, den geistigen Ausgangspunkt und das Resultat zusammenzudenken, statt ein ums andere Mal den Geist der Aufklärung gegen die Übel ins Feld zu führen, die er selber geschaffen hat? Der Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Antisemitismus ist nur gegen das Erbe der Aufklärung und nicht mit ihm zu gewinnen.