die Staatsbürgerschaft.

Das Glück der Neunjährigen

Manches verbessert, mehr verschlechtert, der Generallinie gefolgt.

Selbst Skeptiker, die meinten, die rot-grüne Regierung würde allenfalls die Politik ihrer Vorgänger fortführen, wenn nicht noch fiesere Sachen machen, waren in einem recht zuversichtlich: Das völkische Abstammungsrecht würde ersetzt durch das republikanische Territorialrecht, die doppelte Staatsbürgerschaft als Regel möglich. »Für SPD und Grüne«, kommentierte im Januar 1999 die Frankfurter Allgemeine, »ist das Staatsangehörigkeitsrecht eine der wenigen Möglichkeiten, Reformfähigkeit zu demonstrieren«.

Das galt besonders für die Grünen. Sie versuchten, nachdem sich im Koalitionsvertrag in den meisten Punkten die SPD durchgesetzt hatte, sich mit einem ius soli und dem Doppelpass zu profilieren. »Es ist das wichtigste Projekt«, erklärte ihr Innenpolitiker Cem Özdemir.

Tatsächlich hat Rot-Grün, wenn auch mit Vorbehalten, das Territorialprinzip anerkannt. Wenn ein Elternteil mindestens seit acht Jahren hier lebt und seit drei Jahren eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt, erhält seit dem 1. Januar 2000 ein in Deutschland geborenes Kind neben der elterlichen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit spätestens 23 Jahren muss es sich aber zwischen beiden entscheiden.

Für diesen Vorschlag der FDP hätte man zwar die grüne Partei nicht gebraucht, aber egal, könnte man sagen, für die nächste Zeit ist das Thema erledigt, und wer weiß, wie in zehn oder 20 Jahren die Dinge aussehen? Aber die rot-grüne Novelle des Einbürgerungsrechts ist schlimmer als ein unbefriedigender Fortschritt. Für alle Nichtdeutschen über zehn Jahre ist sie ein Rückfall hinter den Status quo ante.

Lange Zeit war Einbürgerung reine Ermessenssache. Zu den Bedingungen gehörte die »freiwillige und dauerhafte Hinwendung zu Deutschland«, wie es in den ministeriellen Richtlinien hieß. Sie sollte eine Ausnahme bleiben: »Die Bundesrepublik Deutschland (...) strebt nicht an, die Anzahl der deutschen Staatsangehörigen durch Einbürgerung zu vermehren.«

Erstmals änderte sich dies 1991 unter dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble. Wer längere Zeit hier gelebt oder hier eine Schule besucht hatte, zudem eine Aufenthaltsgenehmigung besaß, keine Sozialhilfe bezog, politisch als unbedenklich galt, nicht wegen schwererer Delikte vorbestraft war und seine vorige Staatsangehörigkeit aufgab, bekam einen Anspruch auf Einbürgerung zugebilligt. Bei größeren Problemen mit der Ausbürgerung wurde ausnahmsweise sogar der Doppelpass möglich.

Im Folgenden begann die Zahl der Einbürgerungsanträge sprunghaft anzusteigen. Wer die Gründe erfahren will, kann sich an einen Ausländer seiner Wahl wenden und ihn fragen, was es heißt, ohne deutschen Pass in diesem Land zu leben. Anfang der neunziger Jahre kam es auf Standesämtern in der Provinz sogar zu kleinen Zeremonien. Zusammen mit der Einbürgerungsurkunde wurden Bändchen wie »Verfassung des Landes Hessen und Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland« und Langspielplatten mit Titeln wie »Musikalische Grüße aus Flörsheim« überreicht.

Immerhin, die Aufforderung, sich dem Staat gegenüber loyal zu verhalten und Volksmusik toll zu finden, kam erst nach der erfolgten Einbürgerung. Rot-Grün hat die übrigen Voraussetzungen übernommen, zusätzlich aber diese beiden Momente - Loyalität und Kultur - nach vorne verlagert.

Während zuvor der Nachweis von Sprachkenntnissen genügte, müssen diese nun »ausreichend« sein. Ausgeschlossen werden damit viele Angehörige der ersten Einwanderergeneration. Schon deshalb, weil man sich jahrzehntelang allein für deren Arbeitskraft interessierte, sich aber darum, ob und wie die Leute Deutsch lernen, kein bisschen scherte, ist diese Regelung schamlos.

Auch das »Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung« und das Verbot »verfassungsfeindlicher Betätigungen« hat Rot-Grün verschärft. Regelüberprüfungen des Verfassungsschutzes sind möglich, selbst einen Treueschwur für designierte Deutsche gibt es inzwischen.

Die folgenreichste Neuerung betrifft einen anderen Punkt. Nicht nur, dass aus der rot-grünen Ankündigung, der doppelten Staatsbürgerschaft das Hauptportal zu öffnen, nichts wurde. Fast unbemerkt schloss man auch die Hintertür. Zusammen mit den Einbürgerungen hatte sich zwischen 1991 und 1999 auch die doppelte Staatsbürgerschaft verbreitet. Das ging so: Man trat aus der alten Staatsbürgerschaft aus, nahm die deutsche an und beantragte erneut die vorige. So machten es die meisten der knapp 330 000 Türken, die sich in den neunziger Jahren einbürgern ließen. Irgendwann sprach sich diese List herum, der damalige Kanzler Helmut Kohl tobte über den »Missbrauch«. Allein, man hatte keine rechtlichen Mittel, um dagegen vorzugehen.

Denn bis zum rot-grünen Meisterwerk galt, dass ein Deutscher, der im Ausland wohnt und freiwillig eine andere Staatsangehörigkeit erwirbt, automatisch die deutsche verliert. Die Einschränkung auf den Auslandswohnsitz ist jetzt gestrichen, wer dennoch seine alte Staatsbürgerschaft wieder annimmt, riskiert die sofortige Ausbürgerung. Vor allem deshalb sind migrantische Organisationen verärgert. »Anstatt Barrieren abzubauen, hat die Regierung neue geschaffen, vor allem für ältere Einwanderer«, sagt Hakki Keskin, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland.

Das belegt auch die Statistik. War die Zahl der eingebürgerten Türken zwischen 1991 und 1999 von 3 529 auf 103 900 angewachsen, ging sie 2000 auf 82 812 zurück. Da ein Teil dieser Einbürgerungen noch auf der alten Rechtsgrundlage erfolgte, dürfte die Kurve künftig weiter fallen. Genaueres ist nicht bekannt, eine Bundestagsanfrage zu neueren Daten blieb unbeantwortet.

Neben den Verschärfungen hat Rot-Grün gemeinsam mit der bürgerlichen Opposition und großen Teilen der Öffentlichkeit eines geleistet: Die Migranten gelten als zu lösendes Problem. Mit dem ständigen Reden über sie wird die Distanz zwischen »ihnen« und »uns« immer wieder neu geschaffen. Die Deutschen bestimmen die Maßstäbe, die ihre Kanaken zu erfüllen haben.

Treffend formuliert hat die Quintessenz deutscher Einbürgerungspolitik der Abgeordnete Emil Belzer. Begrüßenswert fand er, »dass einwandfreie, moralisch und wirtschaftlich tüchtige Leute, Leute, die durch Intelligenz oder Vermögen hervorragen, in Deutschland eingebürgert werden, weil das einen Gewinn für unser Vaterland bedeuten würde.« Aber die »sittlich oder wirtschaftlich bedenklichen Elemente« gelte es draußen zu halten. Debattiert wurde über das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, man schrieb das Jahr 1913. Nein, alles anders gemacht hat Rot-Grün wahrlich nicht.