Revisionismus im Wahlkampf

Stimmenfang im Schützengraben

Der Bundestagswahlkampf ist schon jetzt an Schäbigkeit kaum noch zu überbieten. Neben der Zuwanderungsfrage geriet in der vergangenen Woche auch das deutsch-tschechische Verhältnis in die Auseinandersetzung. Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte seine für März geplante Reise nach Prag ab. »In beiderseitigem Einvernehmen« sei vereinbart worden, den Besuch zu verschieben.

Denn nachdem der tschechische Premierminister Milos Zeman es gewagt hatte, die Deutschen an die historische Tatsache zu erinnern, dass die Sudetendeutschen einst die »fünfte Kolonne Hitlers« gewesen sind, schickt es sich für den Bundeskanzler offensichtlich nicht mehr, seinem sozialdemokratischen Kollegen die Hand zu schütteln. Schröder halte angesichts der Parteinahme Edmund Stoibers für die Sudetendeutschen die Reise derzeit für »nicht empfehlenswert«, berichtete die Frankfurter Rundschau. Was für ein Kanzler, der sich von seinem Gegenspieler die Reiseziele vorschreiben lässt!

Gerhard Schröder weiß, dass das Schüren antitschechischer Ressentiments nicht nur bei der Wählerklientel der Union gut ankommt. Die CSU scheint sogar davon auszugehen, dass es sich lohnt, noch tiefer in die schwarzbraune Kiste zu greifen. Das demonstrierte am vergangenen Donnerstag der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Norbert Geis (CSU). Der Bundestag beriet in erster Lesung einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die generelle Aufhebung der NS-Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure und Homosexuelle zum Ziel hat. Geis machte klar, dass seine Partei es nicht nur mit den damaligen sudetendeutschen Hitler-Fans hält, sondern auch mit Hitlers Mörderbande, die Europa in Schutt und Asche legte.

Völlig ungezügelt hetzte er gegen die Wehrmachtsdeserteure. Diejenigen, die mit ihrer Flucht Widerstand gegen Hitler hätten leisten wollen, seien längst rehabilitiert. »Der Offizier aber, der seine jungen Soldaten, die ihm anvertraut waren, im Stich gelassen hat«, habe auch nach heutigen Maßstäben »verwerflich« gehandelt. Geis kam zu dem Schluss: »Wenn wir diejenigen, die weggelaufen sind und damit andere in Not gebracht haben, jetzt als die eigentlichen Helden des Krieges rechtfertigen, begehen wir gegen die Unrecht, die ausgehalten haben, um den Schaden für unser Volk zu begrenzen.«

Diese Behauptung markiert einen weiteren Höhepunkt christlich-sozialer Geschichtsfälschung. Denn die, die »ausgehalten« haben in ihren Schützengräben, haben dazu beigetragen, dass die Krematorien in den Konzentrationslagern weiter brennen und die Todesmärsche zu ihrem Ziel geführt werden konnten. Und wenn man sich diese Frage überhaupt stellen will: Welchen Schaden haben sie denn vom »deutschen Volk« abgewendet, indem sie, als das Land schon in Ruinen lag, es noch Meter um Meter für ihren Führer »verteidigten«?

30 000 Wehrmachtsdeserteure wurden von der NS-Militärjustiz zum Tode verurteilt. Wie die Homosexuellen haben die Wehrmachtsdeserteure, die das »Dritte Reich« überlebt haben, für ihre Verfolgung keinen Pfennig Entschädigung erhalten. Nur noch 1 000 Schwule und Deserteure könnten durch das Gesetz rehabilitiert werden, denn mehr sind heute nicht mehr am Leben. Doch der Stahlhelmkrieger Geis darf sie unwidersprochen beleidigen.

Diese revisionistische Rhetorik gibt momentan im Wahlkampf den Ton vor. Und es ist kein Ende in Sicht. Am 14. März wird der Bundestag über den Nahost-Konflikt debattieren. Welches »Unrecht« die deutschen Parlamentarier dann anprangern werden, ist abzusehen. Eine Reise nach Israel aber muss der Kanzler nicht absagen, denn es ist gar keine geplant.