Die Revolte in Argentinien

Zwei Gefahren

Während sich die argentinische Regierung weiterhin den transnationalen Unternehmen und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) beugt, arbeitet der IWF selbst am Sturz des Staatschefs Eduardo Duhalde. Man betrachtet ihn als unsicheren Populisten. Auf der Gegenseite hat sich eine soziale Allianz gefestigt, die von unorganisierten sowie organisierten Arbeitslosen (den Piqueteros) und einem bedeutsamen Teil der Mittelschicht getragen wird.

Gerade die weniger etablierte Mittelschicht macht derzeit wichtige politische Erfahrungen. Sie erobert ihre Bedeutung in der Geschichte zurück. Gleichzeitig verbinden sich die Assambleas der Metropolen-Vorstädte mit denen der Mittelschicht, die sich ohnehin schon über die eigenen Viertel hinaus organisieren. Die Versammlungen haben begonnen, ein politisches Programm auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu entwerfen. Doch ein höheres politisches Niveau und eine bessere Organisation bringen es auch mit sich, dass der Massencharakter verloren geht. Schon jetzt agieren immer mehr parteipolitisch Organisierte, während die Beteiligung der Aktivisten vom Dezember, als die argentinische Revolte begann, abnimmt.

Das liegt nicht nur an der Unterwanderung durch Provokateure, die mit Gewalt vorgehen. Diese Entwicklung lässt sich auch nicht auf das Sektierertum jener zurückführen, die anderen ihre verrückten Visionen einer vorrevolutionären Situation aufzuzwingen suchen. Diese Agitatoren sollten erst einmal begreifen, wo die Protestierenden stehen und vom jetzigen Diskussionsstand ausgehend einen gemeinsamen Prozess reifen lassen, statt als selbsterklärte Avantgarde vorzuschreiben, wer was zu denken hat.

Das aber ist ein kleineres Problem. Schließlich kann man lernen, die einen von den anderen zu unterscheiden und nötigenfalls zu isolieren. Wenn aber die Assambleas nicht die Mehrheit und die Piqueteros nicht das Industrieproletariat mobilisieren können, erscheinen sie nicht als glaubwürdige Alternative. Sie werden dann als Spinner gesehen. Es ist nicht glaubwürdig zu erklären, dass alle Politiker gehen sollen, und eine Präsidentschaftswahl zu fordern, ohne eine Partei oder eine Frente der Protestbewegung mit gemeinsamen Zielen zu haben. Dann werden diese Wahlen zum Sieg der Rechten führen. Ebenso wenig ist es möglich, die politische Klasse abzulehnen und gleichzeitig Sofortmaßnahmen einzuklagen. Die Forderungen nach der Verstaatlichung der Banken oder der Nichtbezahlung der Auslandsschulden sind zweifellos berechtigt. Aber sie bedürfen einer handlungsfähigen Führung und einer Unterstützung durch die Massen.

Zudem gibt es ein tief greifendes kulturelles Problem. Die Mehrheit jener Teile der Mittelschicht, die jetzt die Regierung und das System ablehnen, ist wütend. Aber sie hat keine klare Vorstellung von den Zielen des Kampfes noch von den Folgen. Sie will sich rächen, die Diebe bestrafen, aber sie will nicht sehen, dass der Diebstahl dem System wesenseigen und die Ungerechtigkeit dessen Hauptmerkmal ist. Dies ist der Stoff, aus dem sich eine radikal antikapitalistische Politik ebenso ableiten lässt wie ein diktatorischer Rechtspopulismus, der antisozialistisch, antisemitisch, fremdenfeindlich ist und Ordnung und Hierarchie verspricht.

Auf manchen Assambleas heißt es, »töte einen Politiker fürs Vaterland«. Es wird von einer jüdischen Verschwörung gesprochen, wie man es von der italienischen Lega Nord kennt. Auch Le Pen in Frankreich und Jörg Haider in Österreich haben mit ihrer fremdenfeindlichen populistischen Argumentation gegen die Globalisierung immer mehr Arbeiter und auch Stimmen aus der Linken gewonnen. Weit entfernt von einer vorrevolutionären Situation und dennoch mit großen Möglichkeiten ausgestattet, ist Argentinien mit zwei Gefahren konfrontiert: mit einem von den USA unterstützten Militärputsch und einem nationalistischen Rechtspopulismus.

Gekürzter Nachdruck aus der mexikanischen Tageszeitung La Jornada mit freundlicher Genehmigung des Autors.