Italienische Staatsanwälte in Berlin

Übers Ziel hinaus

Italienische Staatsanwälte ermitteln in Deutschland zu dem brutalen Polizeiüberfall auf die Diaz-Schule in Genua. Die Betroffenen aus Berlin wurden als Beschuldigte vorgeladen.

Polizisten der 21. Berliner Hundertschaft sperren den Eingang zum Amtsgericht Moabit ab. Etwa 150 Menschen haben sich vor dem Gebäude zu einer Kundgebung versammelt. Offensichtlich fürchtet die Polizei, dass die Menge das Gericht stürmen könnte. Auch im Innern des Amtsgerichts ist ein Teil des Flures im zweiten Stock mit Straßenabsperrgittern abgeriegelt, drei Gerichtsdiener halten Wache vor der Tür zum Zimmer 807, wo die Vernehmungen stattfinden.

Es geht um Genua, um jene Nacht im Juli des vergangenen Jahres, als Einheiten des italienischen Innenministeriums, der Polizei und der Carabinieri die Diaz-Schule stürmten, in der knapp 100 GlobalisierungskritikerInnen übernachten wollten. Stattdessen wurden sie verprügelt, zum Teil schwer verletzt und für mehrere Tage unter weiteren Misshandlungen in Polizeikasernen und Gefängnissen festgehalten - sofern sie nicht im Krankenhaus lagen. Alle wurden pauschal der Mitgliedschaft im halluzinierten »black bloc« angeklagt. Die italienische Staatsanwaltschaft begann jedoch auch mit Ermittlungen gegen die beteiligten Polizeieinheiten.

Im Rahmen der Amtshilfe besuchen nun die Staatsanwälte Enrico Zucca und Francesco Pinto mehrere Länder, um die Opfer des Überfalls zu vernehmen. In Deutschland sind alle, die hier Strafanzeige gegen Unbekannt stellten, zur Vernehmung vorgeladen worden, aber auch zwei weitere Betroffene: insgesamt bislang etwa 30 Personen, die Hälfte davon aus Berlin.

Am Tag der Kundgebung werden zwei Berliner in die Mangel genommen. Einer von ihnen ist Ulrich R. Sechs Stunden dauert seine Vernehmung. Fünfeinhalb Stunden wird er als Zeuge befragt, eine halbe Stunde als Beschuldigter. In den Vorladungen der Berliner Staatsanwaltschaft war nicht von Zeugenaussagen die Rede, lediglich von Vorwürfen wie Sachbeschädigung und Waffenbesitz. Die Zeugenvorladung sei »vergessen« worden, wie Oberstaatsanwalt Jürgen Heinke aus der Abteilung »Politische Straftaten und Extremismus« später erklärte, der für die Vernehmungen in Berlin zuständig ist.

Ulrich R. schildert seine Vernehmung. Heinke, der fast alle Fragen stellt, will nicht nur wissen, was in der Diaz-Schule vor sich ging. Ihn interessiert auch, wann R. mit wem nach Genua gefahren ist, wo er sich wann mit wem aufgehalten hat. Immer wieder stellt Heinke auf der Suche nach Unstimmigkeiten und Widersprüchen fast identische Fragen, darunter viele überflüssige: »Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht vermummt waren?« R.s Anwalt Stefan Dangel bestätigt, dass Heinke bestrebt ist, den Befragten »in die Enge zu treiben«.

Die italienischen Kollegen Pinto und Zucca wirken sichtlich desinteressiert, solange es nicht konkret um die Ereignisse der Nacht zum 22. Juli geht. Sie fragen R. ausschließlich danach, haben Pläne der Schule mitgebracht, Fotos von den verwüsteten Räumen voller Blutlachen, wollen zuordnen, alles genau wissen. Als Ulrich R. eine Polizeiuniform beschreibt, nicken sie zustimmend, wissen vermutlich, um welche Einheit es geht.

Die halbstündige Beschuldigtenvernehmung besteht ausschließlich aus Fragen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können. Als Heinke völlig vom Thema abweicht - »Waren Sie schon mal in Deutschland auf Demonstrationen?« - schreitet Rechtsanwalt Dangel ein. Weitere Fragen dieser Art werden nicht gestellt.

Dangel, der auch andere ZeugInnen vertritt, stellt am Ende der Woche fest, dass andere Vernehmungen wesentlich »milder« vonstatten gingen. Heinke sei weit über das Ziel hinausgeschossen. »Was die Italiener interessiert, hätte man auch in zwei Stunden abhandeln können.«

Schon die Form der Vorladung hatte unter den BerlinerInnen zu großer Verunsicherung geführt. Wie ausführlich soll man aussagen, was kann alles gegen einen verwendet werden? Wer verfolgt welche Interessen? Eine gewisse Erleichterung macht sich breit, als offensichtlich wird, dass die italienischen Staatsanwälte ein ehrliches Interesse daran haben, die Vorgänge der als »chilenisch« bezeichneten Nacht aufzuklären. Nach dem italienischen Gesetz ist es möglich, in einer Vernehmung als Zeuge und als Beschuldigter aufzutreten; der Vorteil dabei ist, dass die eigenen AnwältInnen anwesend sein dürfen. Stefan Dangel erklärt, dass der Beschuldigtenstatus von italienischer Seite auch deshalb aufrechterhalten wurde, um umfangreichere, wirkungsvollere Aussagen einholen zu können.

Nach der ersten Etappe der Vernehmungen zeigen sich die Italiener mit den Ergebnissen zufrieden. Und Heinke soll sich, nachdem er immer wieder die Misshandlungen im Detail geschildert bekam, sogar »betroffen« gezeigt haben. Die Unsicherheit der Vorgeladenen hat sich aber nicht in Luft aufgelöst. Denn es war zu offensichtlich, dass sie von der deutschen Justiz nicht nur Wohlwollen zu erwarten haben. Zumindest in Berlin. Denn hier sind die Umstände wesentlich ungünstiger, als sie sein könnten, wegen eines Jürgen Heinke, der sich bei der linken Szene in Verfahren zum 1. Mai, zu Gelöbnix-Aktionen und vielen anderen nicht gerade beliebt gemacht hat. Dies zumindest vermutet Beate Beckmann vom Berliner Ermittlungsausschuss. Es sei zum Beispiel nicht zu erwarten, dass in den anderen Städten ein Beamter vom Landeskriminalamt bei den Vernehmungen anwesend sein wird, der sich, wie Ulrich R. beschreibt, mal desinteressiert, mal gutwillig gibt und sich vor allem zum »Drumherum« Notizen macht.

In Frankreich, wo Zucca und Pinto bereits ZeugInnen besuchten, konnten die beiden die Vernehmungen selbst führen. In Berlin mussten sie größtenteils den Verhören Heinkes lauschen, hatten wenig Einfluss auf seine Fragen. Heinkes Idee war es auch, den italienischen Kollegen Personenschutz zu geben, um sie vor »gewalttätigen Demonstranten« zu schützen.

Heinke hatte schon zuvor seine Position zu den GlobalisierungskritikerInnen deutlich gemacht, indem er die Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft nach den Klagen der Opfer einstellte, während beispielsweise in München und Leipzig ermittelt wird. Übrigens zum Bedauern der Italiener, die sich auch Druck aus Berlin gewünscht hätten, weil das ihre Arbeit erleichtert hätte. »Das Problem ist Heinke«, fasst Beate Beckmann zusammen. »Wir haben einfach Pech gehabt mit ihm.«

Zur allgemeinen Unsicherheit tragen aber noch weitere Umstände bei. Obwohl die Einreiseverbote nach Italien - zumindest für DemonstrantInnen aus EU-Ländern - für unrechtmäßig erklärt wurden, fehlt bislang eine schriftliche Bestätigung ihrer Aufhebung. Auch bekamen erst vor wenigen Wochen viele Eltern der Vorgeladenen von LKA-Beamten Fotos aus der erkennungsdienstlichen Behandlung ihrer Kinder vor die Nase gehalten. Und die zeitliche Parallele zu den Razzien in Italien (siehe auch Seite 12) gibt zu denken.

Aber kein Wunder, dass die Ereignisse in Genua ein langes Nachspiel haben. Denn die Geschichte ist heikel. Für ein akzeptables Ende »werden in Italien einige Köpfe rollen müssen«, wie Ulrich R. bemerkt.