Debatte um das Berliner Stadtschloss

It’s Dynamite

Den Freunden des Berliner Stadtschlosses gebührt der Nobelpreis.

Niemand versteht sich besser auf Architektur als der Sprengmeister. In diesem Fall hieß er Kurt Liebknecht und war ein Neffe jenes berüchtigten Sozialdemokraten, der sich dem Bündnis seiner Partei mit der kaiserlich-preußischen Armee widersetzt hatte. Liebknecht ging mit fast neronischer Bedachtsamkeit zu Werke; am 7. September 1950 pulverisierte er den Apothekentrakt des Berliner Stadtschlosses, errichtet im Auftrag des Kurfürsten Johann Georg, der 1590 das »Mandat wider die Zigeuner« erlassen hatte, am 15. und 16. September erleichterte er uns von der Südwestecke.

Und er sah, dass es gut war, und widmete sich in den folgenden Wochen, genießerisch, sprengend, dann wieder innehaltend und betrachtend, den zum Ruhme Friedrichs I., des selbst ernannten »Königs von Preußen«, Friedrich Wilhelms I., des Erfinders des Knutensystems, und dessen Vervollkommners, Friedrichs II., errichteten Portalen, Sälen und Titanen. Schutt häufte sich an jenem Ort, an dem die preußischen Despoten, die furchtbarsten in Europa, hatten exerzieren lassen und an dem die Revolution 1848 niedergeschlagen wurde, Dynamit zerschmetterte das Gebäude, von dem aus Kaiser Wilhelm am 31. Juli 1914 seinen begeisterten Vasallen angekündigt hatte, er werde das »Schwert mit Gottes Hilfe führen«, und von dem aus vier Jahre später Liebknechts Onkel die »freie Republik Deutschland« proklamierte; wie die Revolution 70 Jahre zuvor einer jener zum Scheitern verurteilten Versuche, die Geschicke des Landes zum Besseren zu wenden. Am 30. Dezember beschloss der Meister sein triumphales Werk mit der Sprengung des Eosanderportals, das, wenn auch vergeblich, den »Triumphbogen des Septimus Severus in Rom ins Große gesteigert« (Renate Petras) nachzubilden suchte.

Wann immer ein Künstler so überzeugend waltet, fehlt es nicht an Kleinkrämern, die ihm seine Arbeit verargen. Dann heißt es wieder, sie sei zu teuer und außerdem gegen die Tradition. So auch hier. Die Sprengung sei zu teuer, schrieb am 8. September 1950 Richard Hamann, Ordinarius der Humboldt-Universität, an den Berliner Oberbürgermeister, außerdem zerstöre der Abriss eine große Tradition, ja ein »Denkmal der schöpferischen Kräfte des Nordens«. Der Architekt Hans Scharoun sprach gar von einer »raum- und volksgebundenen schöpferischen Fähigkeit«, obwohl einer der drei bestimmenden Baumeister, Rochus Guerrini Graf zu Lynar aus Italien, der zweite, Johann Friedrich Nilsson Eosander, genannt von Göthe, aus Schweden stammte und der dritte, Andreas Schlüter, vom Soldatenkönig geschasst, nach Russland auswanderte.

Durchaus einig waren sich die zeitgenössischen Schloss-Freunde mit der DDR-Spitze darüber, dass »angelsächsische Bomben« (Johannes Stroux, Präsident der Akademie der Wissenschaften), der »amerikanische Bombenterror« (Walter Ulbricht) oder auch nur »alliierte Flieger« (Hamann) dem Schloss den ersten Stoß gegeben hätten und dass die westlichen Alliierten sowie das »zinssuchende Kapital« (Stroux) die eigentlichen Feinde einer echt deutschen Denkmalpflege seien. Allein, aus unerfindlichen Gründen hatte die Führung der DDR nun einmal, vielleicht das einzige Mal in der Geschichte dieses Staates, eine künstlerische Entscheidung gefällt, und auch Wilhelm Pieck, der »Vater des Vaterlandes« (Hamann), wollte sie nicht mehr widerrufen.

Als alles bereits im schönsten Gange war, merkte auch der Westen auf, und der Tagesspiegel (1. Oktober 1950) jammerte: »Mit der Beseitigung des Schlosses wird der Baumeister Schlüter ausgelöscht sein und mit ihm die große moralische Kraft, die von seinem Werk ausgeht.« Moralische Kraft heißt, nach Kant, sich freiwillig im Einklang mit den Zielen des Staates zu befinden, insbesondere, wenn er der »Friederichs« ist. Mit dem Verb »auslöschen« aber griff die Zeitung einer Diktion vor, die die neuere Schloss-Debatte bestimmt: Seit Anfang der Neunziger ist nicht mehr von der Niederlegung oder dem Abbruch der Schlossruine die Rede, sondern von ihrer »Vernichtung« (Bernd Maether), der »Liquidierung des Hohenzollernbaus« (Das Parlament) oder kurz von der »Schlossvernichtung« (Petras). Es bezeichnet, wenn auch nicht die moralische Kraft, so doch die Harmlosigkeit der Akteure von 1950, zu einem solchen nicht allein sprachlichen Verbrechen noch nicht in der Lage gewesen zu sein.

Ansonsten sehen die Argumente für oder gegen den Aufbau des Schlosses denen gegen oder für einen Abriss zum Verwechseln ähnlich. Ein jeder Gimpel beruft sich auf die Tradition und wirft dem andern vor, dessen Vorhaben koste zu viel. Der Schloss-Gegner Bruno Flierl sinnt über den »gesellschaftlichen Wert dieses Ortes«, der Schloss-Befürworter Wilhelm von Boddien über die »Wertschöpfung für Berlin« nach. Das ist langweilig.

Doch aus dem deutschen Wald ist nicht nur das Lied dieser traurigen, sondern auch das der aufgeplusterten Vögel zu hören. Martin Mosebach schreibt in der FAZ (4. Februar) unter dem Titel »Vergeßt die Moderne. Warum das Berliner Schloß wieder aufgebaut werden muß«, im Schloss sei »von den 'beiden Körpern des Königs' vor allem der unsichtbare, unsterbliche zu Hause, der Gedanke des Staates«. Wird also das Schloss neu errichtet, sollte dem unsterblichen fritzischen Gedanken-Körper ein Opfer gebracht werden; ich schlage vor, die Gebeine von Theodor Heuss ins Fundament zu versenken.

Um die Zukunft müsse uns nach der Wiederkehr des Schlosses nicht mehr bange sein, bemerkt der weit gereiste Gustav Seibt. »Dass barocke Bauten zu Architektur des 21. Jahrhunderts mutieren können, haben Paris - im Neuen Louvre - und Rom - in den päpstlichen Stallungen am Quirinal - glanzvoll vorgemacht.« (Süddeutsche, 22. Januar) Glanzvolle Mutationen ist uns die Gentechnik noch schuldig geblieben, warum liefert die Stadtplanung sie nicht?

Goerd Peschken hingegen ist das Tirilieren fremd, er ruft das Schloss in Ästhetik & Kommunikation »lutherlaut« (Christoph Dieckmann) als ein »Symbol des legitimen, des ganzen, des richtigen Deutschland« aus. Bereits 1994 hat Peschken auf dem Kunsthistoriker-Kongress in Dresden einen seiner Meinung nach nicht gehörig beachteten Vortrag gehalten und darauf hingewiesen, dass seine »Rolle« nicht nur die des »Baugeschichtlers, wenn Sie so wollen des Wissenschaftlers« sei.

»Meine andre Rolle in Sachen Schloß ist die des entwerfenden Architekten, wenn Sie so wollen des Künstlers. Diese Rolle teile ich mit meinem Freund Frank Augustin, der ein Architekturbüro betreibt. Wir haben die Kulisse mit dem Spiegel entworfen, die über ein Jahr lang das Schloß an seinem wahren Platz simuliert hat. Den Entwurf haben wir im Mai 1991 publiziert, und ich habe Ihnen unser Katalögelchen da vorne hingelegt zum Mitnehmen.« Ich frage mich, ob Kunsthistoriker Humor genug haben, sich für einen solchen nicht zu erwärmen. »Wir wollten damals nicht zu weit vorpreschen - ich dachte sofort daran, den 5000er Saal des Palastes der Republik zu opfern und den ganzen Schlüterhof als Europas grandiosesten Festsaal einzubauen, aus Originalen, Gips und unter Glas.«

Mit viel Gips und wenig Grips will er auch sieben Jahre nach jenem Kongress das richtige Deutschland stuckieren. »Aus Political correctnes (sic) darf man (...) nicht nennen, was wir für unseren politischen Wahnsinn immerhin bezahlt haben: Ostpreußen, halb Pommern, die Neumark, Schlesien - ein Drittel der Staatsfläche. Ich habe dreißig Jahre darauf gewartet, daß der Holokaust außer unter dem Aspekt der Moral auch endlich als Selbstzerstörung gesehen würde.« Im Herbst 2001 darf er ihn endlich in der Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation so sehen, deren Mitherausgeber Dieter Hoffmann-Axthelm sich besonders über den häufig »mitteldeutsch-sächsischen Hintergrund« der Schloss-Freunde freut.

Aus der Sprengung des Schlosses wurde in 50 Jahren Schloss-Debatte seine Vernichtung, und, vice versa, aus der Vernichtung der Juden die Selbstzerstörung des legitimen Deutschland. Sage niemand, die beiden Vorgänge hätten nichts miteinander zu tun. Unvergänglich bleibt die moralische Kraft des Symbols und des Milieus, das es hochhält und das auch mit Dynamit nicht zu belehren ist.