Deutscher Infowar im Internet

Hier spricht der Irre von Berlin

Wenn Deutsche in den Infowar ziehen, neigen sie dazu, das ganze Netz in Schutt und Asche zu legen. Vor allem wenn Otto Schily gegen Nazis in den USA vorgehen will.

Wenn heute irgendwo auf der Welt ein Minister vom Internet redet, ist meist schon vorher klar, worauf er hinauswill. Das Internet soll nicht mehr, wie noch vor fünf Jahren, schneller, bunter oder gar demokratischer werden, sondern nur noch sicherer.

Die Pionierzeiten, in denen Regierungssprecher den Ausbau der Datenautobahnen fördern ließen und freies Surfen für freie Netzbürger forderten, sind längst vorbei. Mittlerweile entwerfen die staatlichen Expertenkommissionen fast nur noch Bedrohungsszenarien, die denen vom Verfall der Innenstädte recht ähnlich sind. In den leer stehenden Online-Malls nisten sich die Hacker ein, der ehrliche Mittelstand wird von betrügerischen Scheinfirmen verdrängt, die heimische Jugend frequentiert illegale Tauschbörsen, es häufen sich elektronische Müllberge und digitale Graffiti, und wer seinen Briefkasten öffnet, läuft Gefahr, seinen Computer mit immer bösartigeren Viren zu infizieren.

Die Warnung vor den unkontrollierbaren Datenfluten, die überall dort die Firewalls der Informationsgesellschaft zu überspülen drohen, wo zu viel Freiheit im Netz herrscht, ist so oder ähnlich auch in den USA, in England oder in Japan zu hören. Doch die bizarrsten globalen Kontrollphantasien kommen aus Deutschland, und das hat eine ganze Reihe netzhistorischer Gründe.

Von allen Industrieländern der Welt ist Deutschland am schlechtesten ins Internet gestartet. Eingeführt hat das World Wide Web nicht, wie in den USA, der Vizepräsident, sondern bloß ein ehemaliger Tennisspieler, der seitdem gleich mehrere Sportportale in den virtuellen Sand gesetzt hat. Ein ganzes Jahr lang, 1999, musste Boris Becker im Auftrag von AOL seinen Landsleuten in den Ohren liegen, er sei schon »drin« und sie noch nicht, bis die Politik die Initiative übernahm.

Auf der Cebit 2000 - also pünktlich zum Ende jener Ära, die er gerade einläuten wollte - erklärte Gerhard Schröder das Internet zur Chefsache und verkündete, dass zu lange gezögert worden sei und nun niemand mehr wegschauen dürfe: Alle müssten ins Netz. Konnten sie aber nicht, weil den von Becker verkörperten, aufgeschlossen-ignoranten Internet-Deutschen, der keiner Komplexität anders begegnen kann als mit der staunenden Feststellung, wie einfach das ja alles in Wirklichkeit sei, schon das Versenden von E-Mails technisch überfordert.

Und so wurde in Deutschland die Rede von den »Computer-Indern« zur bis heute einzigen nationalen Großerzählung über das Internet, die den hiesigen Standort nicht nur durch ihre angeblichen Programmierkenntnisse demütigten, sondern zudem durch ihre unverhohlene Weigerung, von den Offerten der Deutschen gebührend Notiz zu nehmen. Was mit Gerhard Schröders »Green Card«-Initiative begonnen hatte, ging binnen Wochen in Jürgen Rüttgers »Kinder statt Inder«-Kampagne über und fand 14 Tage später mit der bis dahin spektakulärsten Virus-Epidemie ein jähes Ende.

Unter dem Betreff »iloveyou« hatte ein philippinischer Hobbyprogrammierer mit einem simplen Visual Basic Script weite Teile der deutschen Wirtschaft zum Stillstand gebracht. Regierungssprecher Heye erklärte mit sichtlich gequältem Grinsen, ein solcher Inder könne getrost zu Hause bleiben. Und als hätte er für Spott nicht bereits gesorgt, hatte der Verfasser seinem Script auch noch die Kommentarzeile »i hate go to school« vorangestellt und so das Phantasma von den wissbegierigen und ehrgeizigen Computersklaven, die in ihren Favelas C++ und Wirtschaftsenglisch büffeln, ausgesprochen elegant gekontert.

Wenn Otto Schily heute vom Internet redet, dann lassen sich seine Hirngespinste nur in diesem historischen Kontext verstehen. Dem deutschen Netzdiskurs liegt eine Allmachtsphantasie zugrunde, die immer wieder aufs Neue enttäuscht wird. Diese Enttäuschung zu überwinden, gestaltet sich umso schwieriger, als die Fortsetzung der Geschichte unter völlig veränderten Vorzeichen stattfindet. Auf der Tagesordnung steht keine reale eCommerce-Offensive mehr, sondern die Verteidigung der nationalen Infrastruktur gegen eine fiktive Bedrohung von außen. Wenn Schily also vom Netz spricht - und kaum ein anderer deutscher Minister tut das noch -, dann steht er vor der fast unlösbaren Aufgabe, den deutschen Führungsanspruch in Sachen Online-Sicherheit vertreten und zugleich den lernwilligen Deutschen verkörpern zu müssen. Da Schily aber ahnt, dass das, was er so gern »mein Haus« nennt, gegen Hacker oder Viren nicht den Hauch einer Chance hat, braucht er einen leichteren Gegner.

Und so ist - seitdem der Bundesgerichtshof Ende 2000 entschieden hat, dass Internetstraftaten auch dann noch nach deutschem Recht verfolgt werden können, wenn sie von US-Bürgern in den USA begangen werden - ausgerechnet der Feldzug gegen amerikanische Nazi-Websites zur Lieblingsaufgabe seiner Netzpolizei geworden. Auf diese Weise lässt sich das Image Deutschlands verbessern und gleichzeitig ein imaginärer Feind bekämpfen, der von fremdem Territorium aus operiert.

Doch wenn Deutsche gegen Nazis in den Infowar ziehen, dann neigen sie - nach der Logik einer anderen nationalen Großerzählung - dazu, das ganze Netz in Schutt und Asche zu legen. So verkündete Schily Anfang des vergangenen Jahres, er könne sich vorstellen, die US-Provider von Nazi-Sites mit Denial-of-Service-Attacks (verteilten Angriffen, bei denen Server so lange mit Datenpaketen beschossen werden, bis ihnen die Bandbreite ausgeht) in die Knie zu zwingen.

Obwohl solche Attacken in den USA schon vor dem 11. September als Cyber-Terrorismus galten, blieb die Reaktion der Amerikaner vergleichsweise höflich. Ein Sprecher des Justizministeriums ließ Schily ausrichen, die Auslieferung von US-Bürgern, die in den USA gegen deutsche Gesetze verstoßen, könne er nicht erwarten.

Notgedrungen ging der Innenminister für eine Weile auf Tauchstation und überließ seiner Kollegin Herta Däubler-Gmelin das Feld, die alsbald den von jeder technischen Kenntnis ungetrübten Vorschlag machte, Besucher von Nazi-Websites sollten automatisch zu einem staatlichen Portal gegen Rechts umgeleitet werden. Solche Deutsche hat man gern.

Inzwischen hat sich auch Schily zurückgemeldet. Durch Lobbyarbeit bei der korruptesten aller Netzbehörden, der Weltorganisation für geistiges Eigentum (Wipo), hat er erreicht, dass zumindest auf bundesinnenministerium.com und verfassungsschutz.org keine Hakenkreuze mehr zu sehen sind. Und sogar für den unwahrscheinlichen Fall, dass es dennoch zur Machtergreifung kommt, hat Schily jetzt vorgesorgt.

Mit dem Telekom-Chef Ron Sommer hat er Mitte Januar eine »Sicherheitspartnerschaft« vereinbart und für den »Katastrophenfall« eine völlig neue JavaScript-Funktion angekündigt: das staatliche Pop-Up-Fenster, das sich bei Oderdeichbruch, Luftangriff oder Reichstagsbrand von selber öffnet. »Wo früher die Sirenen heulten«, so Schily, »soll künftig das Handy alarmieren, die Funkuhren schrillen und bei jedem, der gerade im Internet surft, sich ein Warnfenster öffnen.«

Dass in Zukunft in der ganzen Welt zusätzliche Browser-Windows erscheinen sollen, sobald der deutsche Innenminister auf den Knopf drückt, dürfte den Herren von der ECMA, die über die Sprachstandards von JavaScript wachen, noch schlaflose Nächte bereiten. Aber vermutlich ahnen auch sie bereits, was in den brach liegenden Internet-Innenstädten jeder Domain-Squatter und in Indien jedes Schulkind weiß: Hier spricht nicht der gute Deutsche der Datennetze, sondern bloß der Irre von Berlin.