Berlinale

Die Typen A, B und C

Die Berlinale wird von deutschen Filmen und Kritikern des Kapitalismus dominiert.

Nein, nein, erklärte Cate Blanchett, die Hauptdarstellerin des Berlinale-Eröffnungsfilms »Heaven«, Filme seien auf gar keinen Fall dazu geeignet, die letzten offenen Menschheitsfragen zu beantworten. Man solle sie einfach anschauen und genießen und damit fertig.

Kein schlechter Rat eigentlich, nur ist »Heaven« kaum genießbar. Die Begeisterung über Tom Tykwers Streifen, die allerorts durch die Seiten der Feuilletons tobt, ist kaum zu erklären. Denn bei dem Film handelt es sich, grob gesagt, um eine Art Frau-sieht-rot-Film, nur in schöner Landschaft. Mit der eher bedenklichen Kernaussage, dass es völlig okay ist, Dealer umzubringen. Wenn es denn gelingt. Der Plan einer jungen Frau, einen sich als Geschäftsmann tarnenden und selbstverständlich eiskalten Dealer mittels eines Sprengsatzes ins Jenseits zu befördern, geht schief. Statt des Fieslings erwischt es eine Putzfrau und einen Vater mit seinen beiden Kindern. Die Attentäterin wird prompt verhaftet. Mit Hilfe eines Polizeibeamten gelingt ihr jedoch die Flucht, beide hetzen fortan langatmig durch die toskanische Idylle. »Ich will de Hadeln wiederhaben, der hat wenigstens den deutschen Film gehasst«, denkt man sich nach der Vorführung.

Aber ist es überhaupt ein deutscher Film? Verbindet er nicht das Schlechteste aus verschiedenen Weltgegenden (Drehbuch von Krysztof Kieslowski, Polen, Hauptdarstellerin Cate Blanchett, Großbritannien, Geld von Miramax, USA)? Der neue Festivalleiter Dieter Kosslick liebt den deutschen Film jedenfalls ausdrücklich. So sehr, dass es schon fast peinlich ist, etwa dann, wenn er sinngemäß erklärt, die Berlinale zu einer Verkaufsausstellung für den deutschen Film machen zu wollen oder dass im Alphabet B zwar vor C komme, Cannes jedoch nicht zu unterschätzen sei. Doch selbst wenn das Berlinale-Gold an Deutschland gehen sollte - der unbedingt zu schaffende Goldene Bär für die beste Bühnenperformance gebührt der französischen Regisseurin Coline Serreau.

Ihre im Panorama laufende Komödie »Chaos« erzählt die Geschichte einer Ehefrau (Catherine Frot), die mit ihrem Mann im Alltagstrott vor sich hin lebt. Nachdem dem Ehepaar eine junge Prostituierte (Rachida Brakni) auf der Flucht vor einer Zuhältergang vors Auto gelaufen ist, sorgt sich der Gatte nur um eins: die Blutspuren auf der Windschutzscheibe. Ohne anzuhalten oder Polizei und Rettungswagen zu rufen, fährt er in die nächste Waschanlage. Seine Frau dagegen lässt das Bild der Misshandelten nicht mehr los, sie begibt sich auf die Suche und findet sie schließlich auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Fortan bleibt sie Tag und Nacht bei der algerischen Einwandererin, verhindert ihre Entführung durch die Zuhälter, räumt mit Mann und Sohn auf und beginnt mit Hilfe der wieder Genesenen langsam, ein eigenes Leben zu führen.

Vor der ersten Vorführung erzählt die Regisseurin von einem Interview, das sie zuvor einer Journalistin gegeben hat. Die Kritikerin habe ihr gesagt, dass sie den Film noch gar nicht gesehen habe, aber dies sei auf keinen Fall ein Anlass zur Sorge, denn sie habe ja schließlich das Presseheft gelesen und wisse daher Bescheid. »Vielleicht«, so Serreaus Schlussfolgerung, »sollte ich das Filmemachen ganz lassen und einfach nur Pressehefte schreiben.«

So könnte sie sich auch die Pressekonferenzen sparen. Filmjournalisten kann man nämlich grob in drei Kategorien einteilen. Typ A liefert eine mehrminütige Kurzinterpretation des Films und setzt sich danach wieder hin. Was er anschließend vom Regisseur und den Schauspielern erwartet, ist unklar - möglicherweise, dass sie aufspringen, ihn umarmen und ausrufen: »Das ist es! Genau! Sie haben uns die Augen geöffnet!«

Wenn Typ B mit seinem Vortrag fertig ist, weiß man nicht nur, wie er den Film sah, sondern auch, wo er politisch einzuordnen ist. Mit viel Pech fordert er vom Regisseur die Abschaffung des Kapitalismus oder eines anderen Missstandes. Macht nichts, B versucht es bei der nächsten Pressekonferenz wieder.

Typ C ist dagegen außerordentlich rar. Er stellt die Fragen, die gestellt werden müssen.

Wie bei dem Panorama-Beitrag »The Children of God«. Der Dokumentarfilm beschreibt das elendige Leben der Bewohner einer philippinischen Müllhalde nahe Manila, die den Abfall nach Verwertbarem durchsuchen. Nach tagelangen Regenfällen gerät ein riesiger Müllberg ins Rutschen und begräbt 1 000 Menschen unter sich. Regisseur Hiroshi Shinomiya, der sich und seine Crew immer wieder in einer Hütte in der Nähe der so genannten »Smoky Mountains« einmietete, dokumentiert die folgenden Rettungsarbeiten bis ins letzte Detail, filmt schlammverkrustete Leichen mit abgerissenen Gliedmaßen, völlig verzweifelte Hinterbliebene und Retter, die kaum noch etwas tun können. Kurze Zeit später beschließt die Regierung, dass die Müllhalde geschlossen wird.

Was sich zunächst wie eine vernünftige Entscheidung anhört, bedeutet für die Bewohner der Müllberge jedoch eine weitere Katastrophe. Ohne Nachschub gibt es keine Möglichkeit, Geld zu verdienen, für die porträtierten Familien gibt es oft tagelang nichts zu essen. »Jeden Tag wird ein Kind beerdigt«, sagt der Regisseur, »an einem Tag machen sie noch einen vollkommen gesunden Eindruck, am nächsten Tag sind sie plötzlich tot.« Wie der kleine Junge mit dem Wasserkopf, für dessen lebensverlängernde Operation die Eltern kein Geld haben oder das Frühgeborene, das es trotz Behandlung auf der Intensivstation nicht schafft.

»Man wünscht sich, dass der Regisseur die Familien mit Essen versorgt«, schrieb eine US-Kritikerin, und so dauert es auch nicht lange, bis nach einer typischen Typ-B-Frage, in der es im Großen und Ganzen um die katholische Kirche, den Kapitalismus und die Globalisierung geht und was der Regisseur dagegen zu tun gedenke, jemand wissen möchte, ob Shinomiya nicht manchmal beim Anblick von so viel Elend und Verzweiflung die Kamera beiseite legen und helfen wolle. »Ich denke, dass der dokumentarische Anspruch, nicht ins Leben der Porträtierten einzugreifen, in manchen Situationen einfach nicht durchzuhalten ist«, gibt er zu. »Wenn es um Menschenleben geht, muss man natürlich sofort handeln.«