Diskussion über die Pisa-Studie

Dumm gelaufen

Der Dichter- und Denkerstandort Deutschland ist gefährdet, die Nation ist entsetzt über die verheerenden Ergebnisse der Pisa-Studie. »Faktisch 22 Prozent Analphabeten«, fasste Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt sie zusammen.

Nach der internationalen Vergleichsstudie Pisa (Programme for International Student Assessment) können deutsche SchülerInnen im Vergleich mit 30 anderen Ländern weit unterdurchschnittlich gut lesen und rechnen. Auch wenn eine grundsätzliche Skepsis bei solchen Tests angebracht ist, muss man der Pisa-Studie zugute halten, dass der soziale Hintergrund der Kinder berücksichtigt wurde und es auch um »Disziplinen« wie Reflektieren und Bewerten ging.

Die Spitzenleistungen, die Deutschland für sich verbuchen kann, liegen lediglich in den Unterschieden zwischen den besten und den schlechtesten SchülerInnen sowie im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lernfähigkeit. Kinder aus Facharbeiterfamilien haben viermal geringere Bildungschancen als Kinder aus Akademikerfamilien. Und Migrantenkinder schneiden ganz schlecht ab. Fazit: Der Sozialstaat Deutschland schafft es nicht, die sozial Schwachen ins Bildungssystem zu integrieren.

Seit der Veröffentlichung der Studie diskutieren die Kultusminister, erste Forderungen und Pläne wurden laut. So etwas darf nicht wieder passieren, bei der nächsten Erhebung muss ein besseres Ergebnis her. Tatsächlich wird das Schulsystem ansatzweise hinterfragt. Annette Schavan (CDU), die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, gab sich progressiv. In einem Interview der taz forderte sie: »Wir müssen Schülern das Signal geben: Lernen ist spannend.« Auf den Spitzenreiter Finnland und sein integratives Schulsystem angesprochen, antwortete sie jedoch: »Das ist nicht der Ansatz für Veränderung.« Dafür wird über Ganztagsschulen geredet. Rheinland-Pfalz will bereits bis 2006 jede fünfte Schule in eine solche umwandeln.

Die üblichen Verdächtigen ziehen dagegen ihre Standardschlüsse. Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) fordert eine »Kultur der Anstrengung« und natürlich Wettbewerb. »Kinder müssen wieder wissen, dass in der Schule Leistungen verlangt werden«, sagte er der Welt. »Wenn Schüler keine ausreichende Lesefähigkeit haben, dann hat das damit zu tun, dass das Lesen nicht genügend eingeübt wurde.« Von allen Seiten prasselt es Kommentare mit der Forderung, dass Migrantenkinder die deutsche Sprache anständig erlernen sollen. Wahrscheinlich ist damit gemeint: notfalls auch mit Gewalt.

Besonders perfide nahm Hans-Olaf Henkel, der ehemalige Präsident des BDI, als Vorsitzender der Wissensgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz die Studie zum Anlass, sich für eine weitere Begrenzung des Nachzugs von Migrantenkindern auszusprechen. Im Pisa-Test hätte er sicher grandios abgeschnitten. Denn sein Gedankengang muss etwa so gewesen sein: Weil in Deutschland so viele Migrantenfamilien leben, die bekanntlich unzählige Migrantenkinder in die Welt setzen, die die deutsche Sprache nicht lernen, weil ihre Eltern sich der deutschen Leitkultur widersetzen, verderben sie uns den Schnitt und damit das Ansehen der Nation. Also muss man dafür sorgen, dass sich bei der nächsten Untersuchung weniger Migrantenkinder an deutschen Schulen tummeln. Da man den Migranteneltern nicht verbieten kann, unzählige Migrantenkinder in die Welt zu setzen, müssen andere Maßnahmen ergriffen werden.

Mit einer nur mittelmäßigen Abstraktionsleistung hätte Henkel dagegen zu dem Schluss kommen können, dass das schlechte Abschneiden von Migrantenkindern damit zu tun hat, dass sie allein wegen ihrer (sozialen) Herkunft keine Schnitte machen und es ihnen erst recht nicht vermittelt wird, dass Lernen Spaß machen kann. Und das ließe sich ändern.