Räume ohne Recht

Die neue Wehrmachtsausstellung gibt sich entpolitisiert und historisiert. Eine Kritik

Die neue Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944«, die am vergangenen Mittwoch in Berlin eröffnet wurde, wird allgemein sehr gelobt. Nach den Worten des Militärhistorikers Hans-Erich Volkmann zeichnet sie sich im Unterschied zur alten durch »Entpolitisierung« und »Historisierung« aus. Und das ist positiv gemeint.

Tatsächlich hatte die bis 1999 in vielen Städten Deutschlands gezeigte erste Wehrmachtsausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944« politisiert. Mit der Entlarvung der Legende von der »sauberen Wehrmacht« zerstörte sie eine Lebenslüge der Bundeswehr und der Bundesrepublik. Weil daran anknüpfend die Forderung nach einer Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure laut wurde, provozierte sie einen politischen Streit, der erst zu Ende ging, als einige Fachhistoriker der Ausstellung methodische Mängel vorwarfen und ihre Türen geschlossen wurden.

Die Fehler erwiesen sich zwar als denkbar gering. Die Untersuchung durch eine vom Hamburger Institut berufene Historikerkommission ergab, dass allenfalls vier Fotos falsche Beschriftungen trugen. Dennoch wurde die Ausstellung schnell als »unhistorisch« verurteilt.

Der neuen Ausstellung wird dagegen »Historisierung« bescheinigt. Was bedeutet das? Mit der Forderung nach einer »Historisierung des Nationalsozialismus« wandte sich der inzwischen verstorbene Historiker Martin Broszat in den achtziger Jahren gegen eine primär moralische Betrachtungsweise. Man solle stattdessen eine Distanz zum untersuchten Gegenstand aufbauen, um Ereignisse »neutral« in ihrer Zeit betrachten zu können. Neurechte Historiker wie Rainer Zitelmann nahmen diese Formel auf, um das völlig negative Bild des »Dritten Reiches« wenigstens in Teilen zu verschönern und die Verbrechen zu relativieren. Dies kann man der neuen Ausstellung sicherlich nicht vorwerfen. An der Grundthese, dass die Wehrmacht an den Verbrechen des NS-Regimes beteiligt war, hält sie fest.

Die Frage ist, warum sie sich beteiligte. Die Antwort wird gleich zu Beginn gegeben. Da heißt es, dass es in Kriegen häufig »rechtsfreie Räume« gebe und dass Befehle wie der, gefangene »Kommissare« und Juden zu erschießen, »verbrecherisch« gewesen seien. Nun ist ein Mord auf Befehl auch ein Mord, doch die Ausstellung lässt zumindest die Deutungsmöglichkeit offen, dass der Mörder »mildernde Umstände« für sich geltend machen kann. Denn da die NS-Justiz selbst verbrecherisch war, waren die Grenzen zwischen Recht und Unrecht während des Nationalsozialismus verschwommen.

All dies kann man zwar einem einzelnen Verbrecher, aber nicht einer verbrecherischen Institution wie der Wehrmacht zugestehen, womit die Grenze dieser juristischen Betrachtungsweise aufgezeigt wäre. Schließlich haben nicht alle, aber viele Soldaten, vom General bis zum Gefreiten, Juden und »Kommissare« keineswegs nur deshalb ermordet, weil es ihnen befohlen worden war, sondern weil sie diese »jüdischen Bolschewisten« hassten.

Genau dies zeigte die alte Wehrmachtssausstellung anhand vieler Dokumente (vor allem mit Feldpostbriefen auch einfacher Soldaten) und noch deutlicher anhand der Fotos von Soldaten aller Ränge, die sich grinsend und sichtbar befriedigt vor ihren Opfern ablichten ließen. In der alten Ausstellung wurden killing fields dokumentiert, in der neuen sind es nur »rechtsfreie Räume«. Und das ist der wichtigste Unterschied zwischen der alten und der neuen Wehrmachtsausstellung.

Die große Differenz ist auch optisch sofort erkennbar. Die alte Ausstellung wirkte unprofessionell und provozierte durch viele großflächige Fotos, vor allem aber durch das berühmt gewordene Eiserne Kreuz gleich zu Beginn.

Die neue Ausstellung ist dagegen ausgesprochen professionell gemacht. Zu Lasten des Fotomaterials wurden unzählige schriftliche Dokumente eingearbeitet. Auf jegliche Provokation wird verzichtet. Die Dokumente zeigen Beispiele für Verbrechen einzelner Einheiten an einzelnen Orten. Weitere Dokumente finden sich in kleinen begehbaren Glaskäfigen, wo man sie Fächern entnehmen oder auf Bildschirmen ansehen kann. Diese Texte und Dokumente sind gewissermaßen die Fußnoten zu den Texten und Dokumenten, die die Tafeln enthalten. Alles in allem ist die Ausstellung außergewöhnlich textlastig.

Gerade darin soll ihr Verdienst liegen. Hans Mommsen lobte in seiner Eröffnungsrede das Streben nach »dokumentarischer Evidenz«. Aber reicht das aus und kann man deshalb von einer »akribischen wissenschaftlichen Aufarbeitung« sprechen? Wohl kaum. Auch eine Ausstellung kann sich nicht nur auf die Dokumentation von Fakten beschränken, sondern muss sie auch erklären. Und das tut die neue Wehrmachtsausstellung allen Beschwörungen der nüchternen Objektivität zum Trotz auch.

Die Ausstellung hat zwei Tendenzen. Geprägt und vorgegeben ist die eine von Hans Mommsen, der dem wissenschaftlichen Beirat der Ausstellung angehörte. Mommsens Handschrift ist unverkennbar. Sie zeigt sich zum einen in dem bereits erwähnten mangelnden Eingehen auf die Motive der Mörder, zum anderen in der Missachtung des Faktors Ideologie.

Die »Judenverfolgung«, so Mommsen in seiner Einführungsrede, werde im »Zusammenhang der verbrecherischen Befehle« dargestellt - und eben nicht, so könnte man ergänzen, als Resultat des eliminatorischen Antisemitismus Hitlers, der Nationalsozialisten und »der Deutschen«, um hier doch einmal Daniel Goldhagen zu zitieren. Aus der Ausstellung lässt sich also exakt die These herauslesen, die Goldhagen an Mommsen und anderen Anhängern der strukturalistischen Schule immer kritisiert hat: Die Behauptung, die Mörder hätten gar nicht gewusst, was sie taten.

Über die These lässt sich streiten. Dennoch wäre es gut und ehrlich gewesen, wenn die Missachtung des Faktors Ideologie begründet worden wäre, wie übrigens auch die Missachtung der ökonomischen Beweggründe für den Vernichtungskrieg.

Dies alles soll keine akademische Haarspalterei oder Rechthaberei sein. Es geht um Tatsachen mit ganz konkreten Auswirkungen. Als Beispiel sei der rassistisch motivierte Völkermord an den Sinti und Roma genannt, der in der neuen Ausstellung im Unterschied zur alten einfach nicht vorkommt. Dabei war die Ermordung der sowjetischen Roma durch Angehörige der Einsatzgruppen, der Polizeibataillone und »normaler« Einheiten der Wehrmacht nicht nur eine Fußnote. Und es ist mehr als problematisch, wenn auf der Tafel über den »Völkermord« nur Juden, aber eben keine Sinti und Roma erwähnt werden.

Einer Verfälschung nahe kommt das Verschweigen der Roma in der Darstellung des Kampfes gegen die jugoslawischen Partisanen. Dabei nahm die Wehrmacht bekanntlich sowohl Juden als auch Roma als Geiseln, um sie im Verhältnis von eins zu 100 als Rache für von den Partisanen begangene Taten zu ermorden. Nun mag es sein, dass bei den hier dokumentierten Beispielen von Geiselerschießungen tatsächlich keine Roma ermordet wurden. Dennoch hätte der Genozid vermerkt werden müssen.

Obwohl die neue Ausstellung »nicht pauschal verurteilen« und »keine Zensuren« verteilen möchte, weist sie eine zweite Tendenz auf, die vom Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma, in seiner Eröffnungsrede angesprochen wurde.

Mit dem Hinweis auf die heute schon fast vergessene Hamburger Ausstellung über die drei »Makroverbrechen« Auschwitz, Gulag und Hiroshima, deren untergeordneter Teil die alte Wehrmachtsausstellung sein sollte, aber nicht wurde, erklärte er, dass es das Ziel der neuen Ausstellung sei, die »Destruktivität der Moderne« nachzuweisen. Statt killing fields also rechtsfreie Räume und statt antisemitischer und antibolschewistischer deutscher Soldaten »destruktive Moderne«. Goldhagens Deutsche können zufrieden sein.