Berliner Wahlen

Tor au lait

Oberflächlich betrachtet ist Berlin grau an diesem fiesen, nieseligen Tag Ende September. Aber in Wirklichkeit bekennt die Hauptstadt Farbe. Bislang ist bloß noch nicht klar, welche: weiß, grau, ocker oder Naturstein? Berlin wählt. Nicht nur den Senat am 21. Oktober, sondern seit Anfang der vergangenen Woche jeden Tag, und zwar die Farbe, die das Brandenburger Tor nach seiner Sanierung schmücken soll. Vielen Berlinern dürfte das auch wichtiger sein als die künftige Regierung. Da kann man wenigstens ein Ergebnis sehen. Am 22. Oktober soll die Entscheidung fallen.

Direkt neben dem hübsch eingepackten Brandenburger Tor, in einem unscheinbaren Pavillon auf dem Grünstreifen Unter den Linden, gegenüber dem Hotel Adlon, drängeln sich die Menschen vor vier kleinen Gipsmodellen, die in den zur Auswahl stehenden Farben angemalt sind. Schon weit über 5 000 Berliner haben inzwischen ihre Stimme abgegeben. Berlin wählt. Mit Pfennigstücken, die man in den Sockel des bevorzugten Modells werfen darf.

Alle wirken entschlossen, betrachten konzentriert die Modelle, verkünden zum Teil laut ihre Entscheidung, fummeln an den Wahlurnen und in ihren Geldbeuteln herum. Ein älterer Mann ist verzweifelt: »Erst muss man mal einen Pfennig haben!« Er hat Glück und bekommt einen zugesteckt. Der Mann zögert kurz, als würde er überlegen, ob er dem jüngeren Spender dafür eine Zweipfennigmünze in die Hand drücken soll, bedankt sich und schreitet zur Wahl.

Berlin wählt. Alles geht mit rechten Dingen zu. Alle wissen, was sie zu tun haben, schauen sich die Modelle an, entscheiden, wählen. Die Gesichter wechseln schnell in dem kleinen Raum. Eine Mehrfachwahl scheint die soziale Kontrolle zu verbieten. Argumente für oder gegen eine bestimmte Farbe sind kaum zu hören. Bloß einmal für Naturstein, weil das Tor »am besten so bleiben soll, wie es ist«.

Schwerwiegende Entscheidungen werden hier getroffen. Welche Farbe ist die beste? Arg unterschiedlich sehen die kleinen Dinger gar nicht aus. Die Wahl zwischen maus- und steingrau wäre kaum einfacher. Am ansprechendsten ist eigentlich der zart bläuliche Ton der Verpackung, in die das Originalbauwerk zur Zeit gehüllt ist. Der passt auch hervorragend zur grünstichigen Quadriga, die nicht neu angepinselt wird.

Berlin wählt. Warum nicht ocker? Genug Gründe dafür gibt es ja: Im »deutschen Volksmund« Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die Farbe verächtlich »Café au lait« genannt. Damals schon konnte sie niemand leiden. Napoleon wurde durch das Tor kutschiert, als es sich in diesem Zustand befand und nutzte damals die Gelegenheit, die Quadriga zu mopsen. Außerdem: Warum sollte das Brandenburger Tor besser aussehen als unzählige Berliner Treppenhäuser?

Böse Zungen behaupten übrigens, der Berliner Senat werde sich in seiner Entscheidung kaum vom Ausgang der Abstimmung beeinflussen lassen. Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) appelliert vorsorglich an »die Seele des Berliners«, genau wie er selbst den Naturstein zu bevorzugen. Damit nachher alle zufrieden sind, sich identifizieren können und so. Also noch ein Grund für »Café au lait«.

Berlin wählt. Derzeit führt Naturstein, aber »Café au lait« holt auf. Bestimmt.