Videoüberwachung im Alltag

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Berlins Politiker streiten immer wieder über die Videoüberwachung. Dabei gehört sie längst zum Alltag.

Nach dem Terroranschlag in den USA und erst recht nach dem Triumph der rechten Schill-Partei in Hamburg reden wieder alle über Innere Sicherheit. Auch in Berlin. Noch am Wahlabend versicherten Vertreter aller Parteien, einschließlich der Grünen und der PDS, sich künftig mehr des Themas annehmen zu wollen und das »Sicherheitsbedürfnis« der Bevölkerung noch ernster zu nehmen.

Obwohl die Ängste der Bevölkerung vor Terroristen und Handtaschenräubern zum größten Teil völlig irrational sind. Das Risiko für Oma Schulze, Opfer einer Gewalttat zu werden, ist fast überall minimal und nicht vergleichbar mit der viel größeren Gefahr für Ausländer oder Punks, wenn sie durch ein ostdeutsches, nazidominiertes Städtchen schlendern. Aber die Sicherheit solcher »Randgruppen« interessiert niemanden von denen, die tagtäglich ihre eigene Gefährdung und die Bedrohung durch alles Fremde halluzinieren.

Diskussionen um die so genannte Innere Sicherheit laufen zumeist auch auf das Thema Videoüberwachung hinaus. Die Berliner CDU war schon immer dafür, die SPD zeigte sich bislang in dieser Frage gespalten. Zuletzt schienen die Sozialdemokraten in der Hauptstadt einem Modellversuch nicht mehr abgeneigt zu sein, dann kam der Bruch der Koalition und bis zum 11. September war das Thema erst einmal vom Tisch.

Nun aber, auch wegen des Erfolgs der Schill-Partei, droht die Videoüberwachung in Berlin wieder auf die Tagesordnung gesetzt zu werden. In Brandenburg sollen nach Angaben von Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) noch in diesem Jahr vier Pilotprojekte anlaufen. Dann werden auf öffentlichen Plätzen in Potsdam, Bernau und Erkner sowie vor einer Diskothek in Rathenow Kameras installiert. Die CDU hofft, dass dieses Vorhaben auch in Berlin seine Wirkung zeitigen wird.

Doch wie so oft beim Thema Innere Sicherheit hinkt die öffentliche Debatte der Realität hinterher. Am vergangenen Sonntag machte in Berlin-Mitte die autonome Gruppe autopool mit einem »Stadtspaziergang« darauf aufmerksam, dass die Videoüberwachung auf Berlins Straßen und Plätzen längst zum Alltag gehört, auch ohne rechtliche Grundlage.

Webcams filmen rund um die Uhr den Alexander- und den Breitscheidplatz, Videokameras finden sich in U-Bahnen, an U- und S-Bahnhöfen, Flughäfen, Tankstellen, Parkhäusern, Geldautomaten, Banken, Kaufhäusern, Einkaufszentren, Postämtern, Museen, Gedenkstätten, in Bürofluren und in einigen Eingangsbereichen von Mietshäusern. Sogar in der Männerumkleidekabine des Stadtbads Lankwitz ist Mann nie unbeobachtet; auch dort wird eifrig gefilmt. Ebenso wie im Sozialamt Neukölln, wo 19 Kameras für Disziplin auf den Fluren und im Foyer sorgen sollen.

Selbst öffentliche Straßen geraten vor die Linse der Sicherheitsfanatiker. In Berlin-Mitte kann man bereits jetzt kaum noch einen Meter gehen, ohne sich im Blickfeld einer Kamera zu befinden. Auf einer Route vom Redaktionsgebäude des Fernsehsenders n-tv in der Mohrenstraße bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße kann man über 70 Videokameras entdecken, die oft ganze Straßenzüge im Visier haben. Dass dies teilweise illegal geschieht, scheint niemanden zu stören. Schließlich sind die Akteure neben n-tv und Kaufhäusern wie Dussmann vor allem Ministerien, Botschaften und Bundestagseinrichtungen.

Sind Bundesbehörden die Betreiber, gilt ohnehin Bundesrecht und demnach können plausible Gründe die Videoüberwachung durchaus rechtfertigen. Der Sprecher des Bundesdatenschutzbeauftragten, Werner Schmidt, erklärte der Jungle World, dass nach dem neuen Bundesdatenschutzgesetz in einem solchen Fall dennoch »der Umstand der Beobachtung und die verantwortliche Stelle durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen sind«. Dass dies in Berlin längst nicht für alle Kameras gilt, könnte trotz der undurchsichtigen und sehr weit interpretierbaren Rechtslage eine Voraussetzung für juristische Auseinandersetzungen bieten.

Die Chancen stehen dabei nicht immer schlecht. Ein Bürger, dessen Nachbar mit einer Videokamera die Straße vor seinem Haus überwachen ließ, gewann einen Prozess vor dem Bundesgerichtshof. Der Nachbar musste die Kamera wieder abbauen. Und erst im August verfügte das Landgericht Berlin, dass eine Videokamera, die den Eingangsbereich eines Mietshauses kontrollierte, wieder abgeschraubt werden musste.

Doch ob legal oder illegal, ist nach Ansicht der autopool-Sprecherin Corinna Drewen ohnehin ziemlich egal: »Schließlich gelten immer mehr öffentliche Orte, an denen wir uns täglich bewegen, als privat - ob das Bahnhöfe, Kaufhäuser oder Tankstellen sind.« Und hier gelte meistens ein »ominöses Hausrecht«, das in der Regel von ebenfalls privaten Sicherheitsdiensten wahrgenommen werde. Inzwischen seien wie am Los-Angeles-Platz sogar schon ganze Plätze zum Privatgelände erklärt worden.

Dass es kaum zu juristischen Auseinandersetzungen oder politischem Protest kommt, dürfte vor allem daran liegen, dass Videoüberwachung die Bürger gar nicht mehr schreckt. Corinna Drewen: »Es ist schon verrückt. Die Menschen, die heute eine flächendeckende Videoüberwachung wollen, sind teilweise dieselben, die nach dem Mauerfall gejubelt haben, als die DDR-Videokameras am Alexanderplatz abmontiert wurden.«

Nach einer Umfrage der Berliner Morgenpost aus dem Jahr 1999 glauben 67 Prozent der Berliner, dass Videoüberwachung ein geeignetes Mittel gegen Kriminalität sei. Und nach den Terroranschlägen in den USA wächst das Sicherheitsbedürfnis der Bürger. Selbst wenn Videokameras in diesem Zusammenhang eigentlich überhaupt keinen Sinn haben, helfen sie offenbar, irrationale Ängste abzubauen. Womit dann nicht mehr nur die Ängste, sondern auch die gewonnene Sicherheit irrational sind.

Eine Big Brother-Qualität erwirbt die Videoüberwachung allerdings erst durch die Möglichkeiten, welche diese Technik demnächst bieten wird. Zur Zeit liefern die meisten der installierten Geräte nur Überblicksbilder, auf denen jeder Passant nur ein bewegtes Objekt unter anderen ist. Doch der automatische Zoom und damit die individuelle Erkennung sind schon längst möglich, teilweise werden sie sogar bereits praktiziert.

Kommt eine entsprechende biometrische Software dazu, können die gespeicherten Bilder miteinander oder mit anderen Fotos verglichen werden. So könnte die Polizei zum Beispiel ihre Lichtbildkartei, die sie durch erkennungsdienstliche Behandlungen ständig erweitert, mit einer Videokamera koppeln. Dieses System wäre in der Lage, automatisch zu erkennen, ob eine der gespeicherten Personen das Blickfeld der Kamera durchquert.

Beim amerikanischen Super Bowl im US-Bundesstaat Florida gab es Anfang dieses Jahres bereits eine exemplarische Vorführung jener Technik. Vor Spielbeginn hatte die Polizei mit fest installierten Videokameras die einströmenden 75 000 Zuschauer an allen Eingängen gefilmt. Diese Aufnahmen wurden während des Spiels durch einen Computer mit einigen tausend Fotos aus lokalen und staatlichen Verbrecherkarteien verglichen. Mit Erfolg: 19 Kleinkriminelle wurden erkannt und nach dem Spiel von der Polizei festgenommen.

Dieses Beispiel zeigt wie kein anderes, welche Qualität die drohende Totalüberwachung hat. Dieselbe Videokamera, die heute nur Übersichtsaufnahmen liefert, die vielleicht auf dem Monitor eines schlafenden Pförtners flackern, kann morgen zum staatlichen Instrument werden. Und während der Große Bruder alles sieht, werden wir das vermutlich noch nicht einmal mitbekommen.