26.09.2001
Streit um Flüchtlinge im Eurotunnel

Reif für die Insel

Großbritannien versucht, den Eurotunnel für Flüchtlinge zu sperren, und streitet sich mit Frankreich über die Ursachen der Migration.

Nur 20 albanische Fans durften ihrer Mannschaft beim WM-Qualifikationsspiel zwischen Albanien und England Anfang September in Newcastle zujubeln. Die britische Botschaft in Tirana hatte die Mehrzahl der Einreiseanträge mit der Begründung zurückgewiesen, Albaner könnten den Aufenthalt in England nutzen, um Asyl zu beantragen.

Angesichts solch demonstrativer Ungastlichkeit sollte es nicht verwundern, dass einige Einreisewillige unkonventionelle Wege suchen, um auf die britischen Inseln zu gelangen.

Presseberichten zufolge versuchen täglich Hunderte von Flüchtlingen, den Eurotunnel zu benutzen, der Frankreich und Großbritannien zwischen den Küstenstädten Calais und Dover verbindet. Ende August wurden 40 Personen, die bereits die Hälfte der etwa 30 Kilometer langen Strecke hinter sich gebracht hatten, vom Sicherheitsdienst des Tunnelbetreibers und der französischen Polizei aufgegriffen und nach Frankreich zurückgebracht.

Mittlerweile werden nach Angaben der Firma Eurotunnel täglich 100 Personen am Eingang oder im Inneren des Tunnels aufgehalten. 30 000 Vorfälle seien in diesem Jahr bereits gezählt worden. Mindestens vier Menschen starben bei dem Versuch, auf einen der im Tunnel verkehrenden Züge zu springen. In der vergangenen Woche wurde ein 25jähriger Iraki nahe Calais von einem Lkw überrollt.

Diejenigen, denen die Reise glückt, erwartet meistens eine Internierung. Aus Protest dagegen traten in der vorletzten Woche 200 Flüchtlinge in den Gefängnissen Portsmouth und Oxfordshire in einen Hungerstreik. Ein englisches Gericht hatte zuvor in einem anderen Fall die Internierung von Flüchtlingen für unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt.

Die Mehrzahl der Flüchtlinge, die vor allem aus Afghanistan, Irak, Iran und verschiedenen kurdischen Gebieten kommen, sind im Flüchtlingscamp Sangatte nahe Calais untergebracht, das vom französischen Roten Kreuz betrieben wird. Die für den Bau des Eurotunnels errichtete Lagerhalle wurde 1999 von der französischen Regierung zur Beherbergung von Kosovo-Flüchtlingen beschlagnahmt, die obdachlos auf den Straßen von Calais lebten.

Der britische Innenminister David Blunkett und die Firma Eurotunnel sind sich einig, dass das Lager heute vor allem als »logistische Zentrale« für »illegale Immigration« nach England diene. Von seinem französischen Amtskollegen Daniel Vaillant forderte Blunkett am vergangenen Mittwoch, Sangatte zu schließen.

Schon seit längerem gibt es Pläne zur Entlastung des Lagers. Marc Gentilini, der Präsident des französischen Roten Kreuzes, verweist darauf, dass es völlig überfüllt sei. Obwohl Sangatte nur für 650 Menschen vorgesehen ist, sind hier 1 600 Flüchtlinge untergebracht. Neben einem weiteren Lager im 60 Kilometer entfernt gelegenen Bailleul waren bisher mehrere kleinere Camps in Planung. Doch auf Drängen des britischen Außenministeriums sicherte Frankreich nun zu, keine weiteren Camps in Küstennähe zu errichten.

Die Forderung, das Lager in Sangatte wegen den Flüchtlingsbewegungen nach England zu schließen, nannte Gentilini ebenso unsinnig, als fordere man, den Eurotunnel selbst zu sperren. Eine Auflösung des Lagers, da sind sich das Rote Kreuz und die französische Regierung einig, würde nur bedeuten, Hunderte in die Obdachlosigkeit zu entlassen.

Zudem wies ein Gericht in Lille am vergangenen Mittwoch den Versuch der Firma Eurotunnel zurück, die französische Regierung mit einer Eilklage zur Schließung des Lagers zu zwingen. Es widersprach damit dem Anwalt der Firma, Jean-Marc Boivin, der den Terminal in Coquelle einer »Belagerung« durch Flüchtlinge ausgesetzt sieht. Das Unternehmen ist in Zugzwang, weil Blunkett an seinem Plan festhält, ab 18. Oktober wie im Flugverkehr 3 000 Euro Strafgeld für jeden »illegalen Migranten« zu erheben, der in den Eurostar-Zügen transportiert wird.

Eurotunnel hat seit 1999 umgerechnet zehn Millionen Mark für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben. Wärmesensoren und 200 Kameras überwachen den Tunnel. Die Zahl der Sicherheitsbeamten wurde im letzten Jahr von 20 auf 300 erhöht. Deren neueste Waffe ist ein Röntgengerät, das Fahrzeuge an beiden Enden des Tunnels nach unerwünschten Passagieren durchleuchtet.

Frankreich macht vor allem das relativ liberale Asylgesetz Großbritanniens für die Lage verantwortlich. Anders als in den meisten EU-Staaten gibt es in Großbritannien keine Ausweispflicht, die eine Personenkontrolle ohne Weiteres legitimiert. Asylsuchende können sich nach sechs Monaten um eine Arbeitserlaubnis bewerben und die Gesetze verbieten es britischen Firmen nicht, illegalisierte Flüchtlinge zu beschäftigen. Nach Schätzungen ist der informelle ökonomische Sektor viermal so groß wie in Frankreich.

Und im Gegensatz zu Frankreich bietet Großbritannien Schutz vor Verfolgung durch nicht staatliche Gruppen. So wird bisweilen auch die in der Dubliner Konvention vereinbarte Rücksendung von Flüchtlingen, die einen Antrag auf Asyl bereits in einem anderen EU-Staat gestellt haben, außer Kraft gesetzt.

Im Ergebnis des Treffens der Innenminister beider Länder in der vorletzten Woche wird Frankreich britischen Immigrationsbeamten den Zutritt zum Camp in Sangatte gewähren, wo sie »realistische Informationen« über die Lage von Flüchtlingen in England verbreiten wollen, um Einreisewillige abzuschrecken. Gemeint sind vor allem die mögliche Internierung und Abschiebung.

Wie in den anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist es auch in Großbritannien so gut wie unmöglich, auf legalem Wege ins Land zu kommen, um Asyl zu beantragen. Eine Visumspflicht für Bürger aller Staaten, aus denen Asylbewerber erwartet werden, und die Bestrafung von Transportunternehmen, die mutmaßliche Asylsuchende nicht schon vor dem Antritt der Reise aussieben, zwingen die Flüchtlinge zu immer gefährlicheren und spektakuläreren Einreiseversuchen.

Die Situation in Sangatte, so die Einschätzung des britischen Refugee Council und weiterer NGO wie Amnesty International, ist nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom der verfahrenen Situation. Sie fordern im Einklang mit Eurotunnel und den Fährunternehmen eine Angleichung des Asylrechtsstandards in allen europäischen Ländern. »Asylbewerbern sollte entweder erlaubt werden, von auswärts einen Asylantrag zu stellen«, erklärte dazu Simon Hughes, außenpolitischer Sprecher der britischen Liberaldemokraten, »oder man gewährt ihnen eine legale Einreise, damit sie ihren Antrag stellen können, ohne ihr Leben zu riskieren.«