Parteiverbot in der Türkei

Gespaltene Tugend

Sie sei antilaizistisch und damit verfassungswidrig, urteilte das türkische Verfassungsgericht letzte Woche über die islamistische Tugendpartei (FP). Nach einem über zweijährigen Verfahren gegen die FP kam das Gericht zu dem Schluss, dass diese zwar nicht die Nachfolgeorganisation der 1998 verbotenen Wohlfahrtspartei (RP) sei. Dennoch wurde die Partei verboten und zweien ihrer Abgeordneten das Mandat entzogen. Damit ist die größte Oppositionspartei vorläufig außer Gefecht gesetzt, ohne dass es zu Neuwahlen kommt.

Kaum war das Urteil gesprochen, trafen sich die Spitzen der rivalisierenden FP-Flügel zu getrennten Strategiegesprächen. In Ankara glaubt niemand mehr, dass die erste Spaltung in der Geschichte des politischen Islams in der Türkei noch verhindert werden kann. Die »Erneuerer« um den ehemaligen Istanbuler Bürgermeister Tayyip Erdogan werden vielleicht schon in dieser Woche die Gründung einer neuen Partei bekannt geben. Die »Traditionalisten« hoffen auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das vermutlich im Juli gesprochen wird.

Sollten die Straßburger Richter der Klage des langjährigen Islamistenführers Necmettin Erbakan stattgeben und das RP-Verbot für nichtig erklären, steht der Neugründung der Wohlfahrtspartei und der Inthronisation Erbakans nichts im Weg. Von einer solchen Entscheidung würden beide Seiten profitieren. Schließlich sind Erdogan wie Erbakan derzeit politische Betätigungen untersagt, so dass beide nur im Hintergrund agieren können. Erdogan werden zudem glänzende Umfragewerte attestiert.

Offen ist, ob aus der Konkursmasse der FP sogar eine dritte Organisation hervorgeht und sich die »Zentristen« zwischen beiden Flügeln aufteilen oder in geschlossener Formation zu anderen Parteien wechseln. An Angeboten mangelt es nicht. So erklärte der Vorsitzende der mitregierenden faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahçeli, neue Mitglieder aus den Reihen der FP würden ihm »keine Probleme, sondern Freude bereiten«. Auch die Konservativen - Mesut Yilmaz' mitregierende Mutterlandspartei (Anap) ebenso wie Tansu Çillers oppositionelle Partei des Rechten Weges (DYP) - buhlen um Überläufer.

Nun gehören in der Türkei Abgeordnetentransfers zum politischen Geschäft wie Spielerwechsel im Profifußball. Dass die bürgerliche wie die radikale Rechte nicht davor zurückschreckt, Islamisten gleich im Dutzend aufzunehmen, zeigt, dass der oft kolportierte scharfe Konflikt zwischen säkularen und islamistischen Kräften in dieser Form nicht existiert. Die DYP verhalf Erbakan zum Ministerpräsidentenamt, der sozialdemokratische Premier Bülent Ecevit koalierte auch schon mit den Islamisten, der Anap-Gründer Turgut Özal kandidierte in den siebziger Jahren selbst für die Partei Erbakans. Und die Militärs, die heute als Todfeinde der Islamisten gelten, haben nach dem Putsch 1980 ihren Aufschwung begünstigt.

Nicht minder trügerisch sind die gravierenden Differenzen, die deutsche Medien innerhalb der Islamisten ausfindig gemacht haben wollen. Ihrem Mullah-Faible folgend, feiern sie die Erdogan-Fraktion als »moderat religiös« (taz) oder, wie der Berliner Tagesspiegel, gar als Vertreterin eines »fortschrittlicheren und demokratischeren Profils des politischen Islam«.

Dem steht nicht nur der erfolglose Feldzug der Istanbuler Stadtverwaltung gegen den Alkoholausschank in Erdogans Amtszeit entgegen. Auch sind fast alle Parlamentarier, deren Aktivitäten vom Verfassungsgericht beanstandet wurden, den »Erneuerern« zuzurechnen: so die ehemalige Abgeordnete Merve Kavakçi, die sich mit einem Kopftuch vereidigen lassen wollte, oder Ramazan Yenidede, der moderne Frauenbekleidung für einen »Ausdruck von Prostitution« hält. Das demokratische Bewusstsein jedes Islamisten endet noch immer bei der Tugendhaftigkeit - vulgo: dem Körper - seiner Tochter.