Das neue Kanzleramt

Das schlechte Karma der Felsenbirne

Kohl hat es gewollt, Schröder hat es gekriegt: das sicherste Büro Deutschlands. Jürgen Kiontke besichtigte das Kanzleramt und sammelte die Kollateralschäden

Die Sprache ist das Haus des Seins, und Gerhard Schröder wohnt darin. Martin Heidegger

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Auferstanden aus Ruinen DDR-Nationalhymne

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Berlin ist geil, weil da immer wo die Post abgeht. Deswegen bin ich auch Journalist geworden: Da gibt's fast jeden Tag irgendwo was umsonst zu fressen und zu saufen! Nehmen wir mal den Einzug der Familie Schröder ins Kanzleramt letzte Woche: Schon vor der Tür ist die Stimmung gut, und wo Schröder auftaucht, logisch, liegt Currywurstgeruch in der Luft. »Haltense 'nen Personalausweis bereit!« nölt der Wachtmeister den 300 wartenden Pressefritzen zu.

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Ruheraum nach dem Mutterschutzgesetz und Erste Hilfe Raum. 19,85 qm, Warte- und Aufenthaltsraum für Journalisten 122 qm. 370 Standardbüros. Fassade: Nord, Süd: Schönbrunner Sandstein, West, Ost: Sichtbeton. Böden: Verde Vittoria Seperntino aus Südtirol. Materialverbrauch: Beton 57 594,183 cbm, Betonstahl 11 480,29 t. Geldverbrauch 465 Mio. (Soll). Mitteilung des Kanzleramtes

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»Haltense die Dokumente bereit!« grölt ein sächselnder Journalist zurück - »das Benehmen haben die noch bei der Volkspolizei gelernt.« Ordnung muss sein. Denn hier ist das Gedrängel schlimmer als vor dem Konzert der Backstreet Boys. Bei Schröder ist das komischerweise immer so. Deswegen heißt er auch: der Medienkanzler.

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8.30 Uhr Musikalische Begrüßung durch das Musikkorps des Grenzschutzpräsidiums Ost unter Leitung von Generalmusikdirektor Jürgen Roland. Hans-Peter Gärtner, Pressestelle Kanzleramt; Mitteilung zum Programmablauf der Schlüsselübergabe

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Gutes aus Ost und West wird übernommen. Oder von früher. So ist das auch beim neuen Kanzleramt, von den albernen Berlinern »Waschmaschine« getauft. Die Schleuder funktioniert, jedenfalls was die Summe von einer halben Milliarde Mark Steuergelder betrifft. Aber immer nur knickern bringt's auch nicht, das holen wir bei der Sozialhilfe locker wieder rein, und es ist auch für einen guten Zweck: Der Bau bildet den Abschluss des »Bandes des Bundes«. Und das zieht sich von Ost nach West »wie ein Verband über die Wunden, die die Stadt getrennt haben«, meint Gerhard Schröder in seiner Einweihungsrede.

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Ein Kanzlerarbeitszimmer, ein Kabinettsaal, die geben einen ordnungsstiftenden Ort eben nicht her. Aus dem Kanzleramt mussten wir also eine Aussage herauszwingen, die nicht im Räumlichen begründet ist. Individueller Geist vermag keine kollektiven Bewusstseinsinhalte auszudrücken. Da ist der erweiterte Kunstbegriff schlichtweg überfordert. Das geht beim Holocaust nicht, und das geht eben auch mit einem formalen ästhetischen Begriff von Regieren nicht (...). Von daher ist auch das Kanzleramt gedacht: als Bühne, Villa, Ruinenfeld, Labyrinth - was auch immer man im Kanzleramt sehen mag. Doch leider haben es die Baufirmen nicht vermocht, eine ansehnliche Sichtbetonwand herzustellen. Axel Schultes, Architekt

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Die Idee ist nicht ganz neu. »Germania« sollte ein gigantisches Projekt Adolf Hitlers und Albert Speers heißen, da war es aber noch eine Nord-Süd-Achse. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels freute sich noch 1944 über die Flächenbombardements der Alliierten in Berlin-Mitte. Dann müsse man die Wohnhäuser für die neue Stadt nicht selbst abreißen.

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Der Bau lässt sich schon heute als Ausdruck eines neuen größeren Deutschlands verstehen. Peter Conradi, Präsident der Bundesarchitektenkammer, SDS-Mitglied 1958-1960

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Der Ort stimmt also, nur geht es hier nicht von oben nach unten mit dem Riegel, sondern von rechts nach links. So ist nach Schröders Meinung das »Band des Bundes« also ein »Band der Einheit«.

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Kohl darf im Kanzleramt wohnen bleiben, teilt sich mit Schröder die Küche - da kann ich mir vorstellen, wie Hannelore am Herd steht und sagt: »Helmut, gibt mir doch mal den Suppenknochen - und fünf Minuten später kommt Schröder rein: »Hat jemand meine Doris gesehen?« Rudi Carrell, »Sieben Tage - sieben Köpfe«

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Dann sagt Gerhard Schröder noch zu den Anwesenden - neben Journalisten auch seine Freundinnen und Freunde aus dem Kabinett: »Mir ist das hier zu groß, aber Neuschwanstein ist es nicht. Hier wird nicht geherrscht, sondern regiert. Wir sollten den Ball flach halten. Das wird ein Medienhaus. Denken wir an die europäischen Nachbarn. Hinten steht das Haus der Kulturen der Welt. Wir sollten selbstbewusst sein. Wir stehen nicht über, aber auch nicht unter unseren Nachbarn.« Die deutsche Regierung macht sich zurzeit stark für eine Verfassung der Europäischen Union. Wird nach Bonn auch Brüssel nach Berlin umziehen?

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Das Gebäude enthält eine Mikroprozessor-gesteuerte Rohrpostanlage mit 37 Stationen. Blockheizkraftwerk: 500 kw. Abwärmeumwandlung durch Absorptionsmaschine (im Sommer), Befeuerung: Pflanzen-Methylester (Bio Diesel). Mitteilung des Kanzleramtes

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Auch sind noch einige tröstliche Worte für den Architekten Axel Schultes drin. Denn bekannt ist: Dem Kanzler geht der Klotzbau gehörig auf die Eier, wie jeder weiß. Denn gerupft am Zaun hat er ja noch vor dem Bonner Kanzleramt, vor der »rheinischen Sparkasse«(H. Schmidt).

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Das neue Haus steht da als Frage. Weiter haben wir es noch nicht gebracht. Bis dahin, immerhin, schon. Tagesspiegel

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Aber dafür kann er jetzt damit machen, was er will. Schultes dagegen ist ein wenig sauer. Sein Entwurf sei durch Kompromisse verhunzt worden. Ein vorgelagertes Bürgerforum wurde denn ja auch aus Kostengründen eingespart. Da hat er nicht alles gekriegt, was er wollte. Aber in Bonn saßen sie die ersten Jahre sogar in Baracken.

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Um Anschläge auf den Kanzler zu verhindern, sind sämtliche Verglasungen in der Beschussqualifikation »splitterfrei« ausgeführt. Bei Tests mit unterschiedlichen Waffen im Bundesbeschussamt in Ulm drang kein Projektil durch die 88 Millimeter dicken Scheiben. Auch die Rahmen halten alles ab - Einbrecher sind praktisch chancenlos. Selbst mit einem 2,5 Kilogramm schweren Vorschlaghammer und einer 80 Zentimeter langen Brechstange scheiterte jeder Einbruchversuch. Das Kanzlerbüro ist damit das sicherste Büro Deutschlands.

www.schneider-fassaden.de

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Den Vorwurf der Großkotzigkeit findet er ungerecht. Beim Kanzleramt handele es sich nämlich um »einen Hafterlass nach der Selbstbestrafung, die in Berlin exekutiert wurde«. Denn: »Hier bin ich Volk, hier darf ich sein.«

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Garten: Bäume: Feuerahorn, Rotahorn, Silberahorn, Spitzahorn, Hainbuche, Rotbuche, Säulenhainbuche, amerikanische Roteiche, Säuleneiche, Stieleiche, Blumenesche, Flügelnuss, Judasbaum, Esskastanie, Lederhülsenbaum und Schnurbaum. Gehölze: Sträucher (u.a. Zaubernüsse und Sternmagnolien) Rosen (u.a. Gloria dei), Bodendecker-Stauden und Blumenzwiebeln. Wintergärten: fünf im nördlichen Verwaltungsbau. Bäume: Schwarze Oliven (immergrüne tropische Bäume, nicht zu verwechseln mit Olivenbäumen) und Feigenbäume. Unterpflanzung: kanarischer Efeu; Büchsen und Rippenfarne. Sieben im südlichen Verwaltungsbau. Bäume: Schwarze Oliven, Flammenbäume, Pfefferbäume, Zimtlorbeeren. Pflanzeninseln: Kletterfeigenbäume und weidenblättrige Feigenbäume. Abdeckung: Natursplitt in den Farben: weiß, gelb, grün, blau, rose. Stelen: Felsenbirnen. Nord- und Süd: alle Sumpfeichen (auch Spree-Eichen genannt). Mitteilung des Kanzleramtes

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Schultes lobt sein Haus, trotz flauer Kompromisse. Hier seien nur »Fluss und Strom« am Werk, interpretiert er den im Sonnenlicht liegenden monolithischen Block, der »alle Register der Gastfreundlichkeit« zieht.

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Gerhard Schröder hat keine Sonnenbrille dabei, was schade ist. Denn so kann man nicht genau sagen, ob es an der Sonne liegt, dass er bei dieser Zeremonie, die sich »Schlüsselübergabe« nennt, die ganze Zeit verkniffen schaut (...). Der Kanzler muss niesen. Dass Protokoll sieht vor, dass Schröder einen silbernen Plastikschlüssel in halber Kanzlerhöhe aus den Händen Schultes entgegen nimmt. Den soll er in ein Loch stecken, dass man am vorderen Podestrand auf den grauen Teppich gestellt hat. Schröder macht dabei keine nennenswerten Fehler. Tagesspiegel

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Über Architektur zu schreiben ist wie zu Musiktheorie zu tanzen. Der vorliegende Text ist somit mindestens Break Beat. Ein Bürgerforum braucht übrigens keiner. Wir haben die Politik in diesem Haus, wir haben die Medien. Wer braucht denn da ein Volk? Es reicht, wenn es vor dem Fernseher sitzt.

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Nur in den Weiten des Spreebogens kam das vereinte Deutschland nicht drum herum, sich eine Form zu geben (...) Dem Kanzleramt fehlt jede Nachbarschaft (...) Einige der Pfeiler, die den Kanzlerkubus prägen, scheinen sich frei gemacht zu haben und bewegen sich in den Ehrenhof hinein (...). (Der Bau) lässt Wände wehen und Brüstungen flattern, ja selbst die mächtigen Betondecken rollen dahin wie schwere Wogen (...). Und auch die strengen weiten Bögen, die er an zwei Seiten dem Kanzlerkubus einschreibt, lösen sich an ihren Enden auf und gewinnen eine ondulierende Freiheit (...). Im Inneren entwickelte sich aus dem Gegensatz von Ordnendem und Organischem ein ungeheurer Sog, überall öffnen sich neue Wege und Einblicke (...). Den behördlichen Gang nimmt (der Raum) wörtlich und macht aus ihm eine architektonische Metapher (...). So ist die raffinierte Treppenspindel im Kern des Gebäudes als rhetorische Figur eine wunderbare Erfindung (...). Die Ungezwungenheit der transitorischen Räume wurde erkauft durch eine gewissenhafte Zwanghaftigkeit in der übrigen Ordnung (... ). Über eine Brücke betritt der Kanzler den hohen Raum, verschwindet dann kurz hinter einer Wandscheibe und taucht anschließend wieder auf (...). Niemand soll ungerührt vorbeigehen können. Die Zeit

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Die Journalisten spielen eine besondere Rolle. Deshalb gibt es einen eigenen Raum für Pressekonferenzen. Und im Haus hängen in jeder erdenklichen Ecke der Decke Fernsehscheinwerfer.

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Der Größenwahn unserer Politiker nimmt immer größere Formen an. Und wann kommt der Petersdom nach Berlin? Bild-Leser Rolf Heuser, Wuppertal

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Ich glaube, dass hat es noch nirgendwo gegeben: dass man in einer Behörde schon die Utensilien eines Fernsehstudios bereit hält. Also: Der Bundeskanzler macht die Politik, d.h. Sozialabbau, Steuerreform oder Wahlkampf, und die Medien inszenieren das dann. Praktisch.

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Einige Bauten, so das neue Kanzleramt, sind in einem sehr futuristischen Baustil, andere, wie die neuen Wohnungen für die Bundesbeamten, sind eher widerlich. Der ganze Spreebogen sieht eher aus wie Deutschlands Antwort auf Brasilia oder Chanedigarh. Neben der Architektur ist auch die Atmosphäre toll. »Eiersuchen in Berlin«, Artikel auf der Lederfetisch-Seite »Stiefel-Online«

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Heute gibt es für uns aber nur Schnittchen, obwohl wir Gerhard Schröder an die Macht geschrieben haben. Leider muss er in ein unfertiges Haus ziehen. Jeder Besitzer eines Neubaus wird wissen, was das bedeutet. Es gibt massenhaft Sekt, den die mitgeführte Polizei auch fleißig trinkt.

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Es ist doch absurd, einem Bauunternehmer einen Auftrag zu geben, wenn man weiß, er kann ihn zu dem angebotenen Preis nicht bewältigen. Das ist so, wie wenn man erwartet, hochwertiges Rindfleisch für zehn Mark pro Kilo zu bekommen. Der Bundeskanzler hat ja selbst gesagt, man müsse für gute Ernährung ein bisschen mehr ausgeben. Ganz genauso gilt das auch beim Bauen. Peter Conradi

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Die ist ja auch noch gebügelt vom 1. Mai in Berlin-Kreuzberg. Das tut ja auch weh.

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Ich finde die Kantine wunderbar. Ich glaube es ist die schönste Kantine Berlins. Doris Schröder-Köpf

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Wir dürfen uns auf einigen Etagen umschauen, da, wo wir demnächst arbeiten werden. Da gibt es zum Beispiel die Skylobby. Sie zieht sich vom sechsten in den siebten Stock, eine trichterförmige Treppe.

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Wieso braucht unser Kanzler so ein Riesengebäude und andere müssen auf der Straße schlafen? Bild-Leser Uli Hillenbrand, Heidelberg

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Schön. Aber wozu? Weder gibt es Platz zum Sitzen, noch kann man den Raum hier irgendwie benutzen. Naja, ist ja auch schön. »Geht ins Treppenhaus, die Fahrstühle funktionieren nicht«, ruft ein Abteilungsleiter. Unfertig wie Deutschland, das Haus: Die Türen klemmen, und auf der Toilette hat auch noch niemand geputzt.

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Selbst die acht großen Pflanzenkübel, bepflanzt mit der Wildbaumart »Felsenbirne« schienen an Kohl erinnern zu wollen. Mitteilung der PDS Hohenschönhausen.

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Weil der Kanzler keine Lust auf das Haus hat, ist auch die Schlüsselübergabe schnell zu Ende.

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Schlechtes Karma

Das Gebäude wird Unstimmigkeiten forcieren und ein dort regierender Kanzler die Unterstützung politischer Freunde und Förderer verlieren. Feng Shui Magazin

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Das hier ist das neue Deutschland, jetzt haben wir es auch von innen gesehen. Es könnte da künftig ein Problem geben: Es ist immer noch zu klein. Wir fordern die Gesamtüberdachung.

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Das Konzept ist kaputt. Axel Schultes

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Am besten hat mir übrigens die riesige Eingangshalle gefallen. Man kann dort bequem einen Fußballplatz hochkant reinstellen, wenn einem gerade danach ist. Wenn man vier Millionen Arbeitslosen eine architektonische Form geben müsste, dann sähe das wohl wie das Kanzleramt aus.

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Das Haus ist die Visitenkarte der Republik. Helmut Kohl

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Dagegen ist der Palast der Republik ein Spielzeug und gehört folgerichtig abgerissen. Sehen wir es einmal so: Berlin braucht große, repräsentative Bauten, wohin sollten beim nächsten Weltkrieg sonst die Bomben fallen. Bitte nicht wieder in die Wohnungen.

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Wenn ich das Kanzleramt anschaue, weiß ich gar nicht, warum da alle rein wollen. Guido Westerwelle, FDP

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Deswegen wird auch nichts aus deiner Partei. Ende der Veranstaltung. Terminhinweis: Am 1. September 2001 ist Tag der Offenen Tür. Das ändert zwar auch nichts, aber man darf überall rein.