Fasten bis zum Tod

Der Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei eskaliert. Mehr als 100 Teilnehmer befinden sich in Lebensgefahr.

Sie hungerte von allen in dem kleinen Haus in Armutlu am längsten. 160 Tage lang nur Vitamintabletten und Fruchtsäfte, zum Schluss nahm der Körper nicht einmal mehr Flüssigkeit auf. Die 30jährige Senay Hanoglu starb am Sonntagnachmittag. Alle hatten sich gewundert, dass sie es so lange noch geschafft hat, denn schon seit einer Woche erkannte sie ihre zwei Kinder nicht mehr. Senay hatte sich fünf Monate lang solidarisch am Hungerstreik der politischen Gefangenen in der Türkei beteiligt, weil auch ihr Mann im Gefängnis sitzt.

Zwei Tage nach der »Lebensrettungsaktion« in den Gefängnissen am 19. Dezember vergangenen Jahres hätte er entlassen werden sollen. Die Regierung versuchte damals, den Hungerstreik gewaltsam zu brechen und die politischen Häftlinge in die neuen Hochsicherheitstrakte zu verlegen (Jungle World, 2/01). Die Gefangenen leisteten Widerstand, verbarrikadierten sich in den Großraumzellen. Nachdem die Insassen Widerstand geleistet hatten, stürmten die Spezialeinheiten die Zellen rücksichtslos. Warum fast alle Gefängnisse plötzlich in Flammen standen, weiß man bis heute nicht. Die Gefangenen schwören, die Polizei habe das Feuer gelegt, die Sicherheitskräfte beteuern, die Gefangenen hätten Brandsätze geworfen. Beides ist denkbar. Bilanz: 29 tote Häftlinge, zwei tote Soldaten.

Senay Hanoglus Mann überlebte, aber man verlegte auch ihn in den Hochsicherheitstrakt in Kandira bei Izmit. Besuche waren in den vergangenen Wochen verboten, Senay hätte es auch gar nicht mehr geschafft. Ihr Haus liegt in dem kleinen Viertel Gecekondu in Istanbul, direkt neben der Autobahn, die zur Bosporusbrücke führt. In der Nachbarschaft wird das Gebäude das »Todeshaus« genannt. Seit drei Monaten wohnt dort eine Gruppe von Angehörigen politischer Gefangener, die sich im Todeshungerstreik befinden.

Die 38jährige Hülya Simsek sieht aus wie ein Schatten, kann aber noch aufstehen. Um sich abzulenken, malt sie große Frauenporträts in einer anatolischen Berglandschaft. Die 22jährige Fatma erstaunt alle. Sie fastet beinahe genauso lange wie Senay und steht immer noch auf den Beinen. Die 22jährige Zehra Kulaksiz kann nur noch liegen. Sie teilt ein Zimmer mit Senay.

Vor einer Woche, auch an einem Sonntag, starb Zehras 19jährige Schwester hier an den Folgen des Hungerstreiks. Ihr Bild hängt über Zehras Bett. Es scheint, als habe der Tod der jüngeren Schwester sie im Willen bestärkt, bis zum Ende weiterzumachen. In ihrem blassen Gesicht spiegeln sich Entschlossenheit, Erschöpfung und eine Spur von Hoffnungslosigkeit.

Seit Monaten versammelten sie sich an unterschiedlichen Orten. Erst in einem Vereinsbüro in der Innenstadt auf der Itiklal Caddesi. Doch das Büro wurde nach der Operation in den Gefängnissen eines Nachts geräumt, alle Leute, die dort teilweise auch übernachtet hatten, wurden samt ihrer Habe auf die Straße gesetzt. Die Hungerstreikenden zogen in die Wohnung einer der sie betreuenden Ärztinnen, doch auch dort standen sie bald unter der ständigen Beobachtung der Polizei.

Als letzte Zuflucht blieb Senays Häuschen in Armutlu. Der Stadtteil wird vor allem von Kurden und Aleviten bewohnt. Zwischen großen bewachten Hausanlagen liegt das kleine Gecekondu-Viertel mit einem wunderbaren Ausblick auf den Bosporus. An vielen Häuserwänden sieht man Slogans mit dem Emblem der linksradikalen DHKP-C, Solidaritätsaufrufe für die Hungerstreikenden und Parolen gegen die neuen Hochsicherheitstrakte.

Fragt man die Anwohner nach dem Grund für diesen Hungerstreik und ob sie das Opfer dieser Menschen verstehen können, schauen alle schuldbewusst. »Die Hungerstreikenden sind unsere Ehre«, sagt eine Frau, »wir sind schwach, wir haben keine Politiker oder Anwälte, die für uns da wären.« Deshalb bleibe nur der Protest mit dem Körper und seiner freiwilligen Zerstörung.

Alle hier sind sich einig, dass es keine andere Möglichkeit als das Todesfasten gibt, und jeder fühlt sich schuldig, weil er nicht auch fastet. Der Hungerstreik hat innerhalb und außerhalb der Türkei viel weniger Aufmerksamkeit erregt, als die Beteiligten sich erhofft hatten. Die Hoffnungslosigkeit in Zehras Blick entspringt vor allem dieser Tatsache.

Kaum war ihre Schwester gestorben, da erklärte die türkische Regierung, dass es keine Kompromisse in der Gefängnisfrage geben werde. Für die Regierung ist das Problem mit der Erstürmung der Gefängnisse gelöst worden. Wenn es nur nicht die lästige Aufmerksamkeit des Auslands gebe. Dabei hatte man monatelang behauptet, die Hochsicherheitstrakte entsprächen den europäischen Standards.

Ganz abgesehen davon, dass Hochsicherheitstrakte wie Stammheim, nach deren Vorbild die Gefängnisse vom Typ F in der Türkei gebaut wurden, ebenfalls als menschenunwürdig kritisiert werden, hat sich nach der Verlegung der Gefangenen in die Isolationsknäste bestätigt, was alle befürchtet hatten: Isolation wird als Strafmaßnahme eingesetzt. Nach Paragraf 16 des türkischen Anti-Terror-Gesetzes dürfen politische Gefangene keinen Kontakt zueinander haben. Da in den Hochsicherheitstrakten nur politische Gefangene sitzen, werden die Gemeinschaftsräume zur Zeit nicht benutzt. Zeitungen, Radio und Fernsehen sind nicht erlaubt, die Anwälte haben nur begrenzten Zugang, Angehörige ebenso.

Kronzeugen hingegen werden belohnt, indem man sie in die Haftanstalten mit Gemeinschaftszellen verlegt, die es weiterhin gibt. Das karikiert natürlich die Behauptung der türkischen Regierung, dass die Hochsicherheitstrakte gegenüber den unhygienischen und unsozialen Lebensbedingungen in den Gemeinschaftszellen eine wesentliche Verbesserung für die Gefangenen bedeuteten.

Tatsächlich ist es so, dass die Isolation als Strafsystem innerhalb des Strafsystems gegen die politischen Gefangenen eingesetzt wird. Der prominente türkische Jounalist Oral Calislar bringt dieses scheinbare Paradox auf den Punkt: »Im Ausland muss man verstehen, dass in diesen Hochsicherheitstrakten nicht 10 000 militante Terroristen einsitzen. Die meisten von diesen Menschen haben Flugblätter verteilt, sich getroffen und diskutiert, Zeitungen veröffentlicht. In der Türkei gibt es eine Tradition, die Opposition als absolut subversiv und entsprechend terroristisch einstuft.«

Calislar kennt diese Praxis bereits mehrfach aus eigener Erfahrung. »Ich wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil ich ein Interview mit Abdullah Öcalan veröffentlicht habe. Das gleiche Prinzip setzt sich in den Gefängnissen fort. Ein Wegsperren jeglicher Opposition nach Prinzipien der Härte wird immer wieder solche Todeshungerstreiks provozieren, denn das System lässt den Menschen keinerlei Raum und bestraft immer nur.«

So verweigert die türkische Regierung derzeit jegliche Verhandlungen, obwohl sich einige Intellektuelle, die Ärztekammer und die Anwaltschaft bereit erklärt haben, zu vermitteln. Doch auch die andere Seite wird sich kaum beugen, denn die Menschen haben nach der Erstürmung der Gefängnisse im Dezember nichts mehr zu verlieren. Die Ärztekammer schätzt, dass etwa hundert Menschen zur Zeit wegen der Folgen des Hungerstreiks in Lebensgefahr schweben.

In dem kleinen Haus in Armutlu wird die Stimmung immer gedrückter. Die Hausherrin ist gestorben, die vier Überlebenden fasten seit mehr als 150 Tagen. Senay ist das 16. Opfer des Hungerstreiks. Und sicher nicht das letzte.