Raumschiff Amerika

Auf dem Amerika-Gipfel in Quebec soll die vertikale ökonomische Integration des gesamten Kontinents beschlossen werden.

George Bush junior kommt aus Texas. Dort, so sagt man, übernimmt der Sohn die Ranch des Vaters, oder er führt in anderer Weise dessen Lebenswerk fort. 1990 verkündete George Bush senior seine Vision vom »Enterprise of the Americas«, von einer Freihandelszone, die sich über den gesamten Kontinent erstrecken sollte. Die meisten US-Politiker taten die Initiative als utopistische Vorstellung ab. Denn eben erst war ein Jahrzehnt der Bürgerkriege in Zentralamerika und der Schuldenkrisen im Süden des Kontintents vergangen. Lateinamerika galt als instabiler Investitions- und Produktionsstandort für multinationale Unternehmen.

Das sollte sich ändern. Die internationalen Finanzorganisationen verordneten ultraliberale, exportorientierte Strukturanpassungsmaßnahmen. So verschärften sich in den neunziger Jahren die sozialen Gegensätze. Gleichzeitig verzeichnete die Region aber das zweitstärkste Wirtschaftswachstum in der Welt.

Wenn sich am Wochenende alle Regierungschefs des Kontinents außer Fidel Castro zum dritten Amerikanischen Gipfel im kanadischen Quebec treffen, fehlt nur noch ihre Unterschrift, um die Free Trade Area of the Americas (FTAA) zu begründen, in der rund 20 Prozent des globalen Handels abgewickelt würde und die mit über 800 Millionen »Konsumenten« der größte gemeinsame Wirtschaftsraum der Welt wäre.

Im Wahlkampf hatte Bush junior die kontinentale Freihandelszone zu einem seiner Hauptthemen gemacht. Sein Vorgänger William Clinton brachte 1994 zwar das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen Kanada, den USA und Mexiko auf den Weg. Er scheiterte aber mit einem gesamtamerikanischen Projekt an der wiederholten Weigerung des Kongresses im eigenen Land, dem so genannten fast-track zuzustimmen. Der fast-track begrenzt den Einfluss des Kongresses auf Entscheidungen über Wirtschafts- und Handelsabkommen mit anderen Ländern und gibt dem Präsidenten weitgehende Vollmachten.

Nun scheinen sich die Widerstände im Kongress aufzulösen. Im März erklärten die Demokraten, sie seien bereit, dem fast-track zuzustimmen. Ihr Abgeordneter Sander Levin deutete an, dass die von seiner Partei und von einigen großen Gewerkschaften geforderten Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards beim Abschluss von Handelsverträgen künftig »flexibler« gehandhabt werden könnten. Diese Klauseln werden von vielen lateinamerikanischen Regierungen abgelehnt, weil sie dem Norden eine Möglichkeit eröffnen, neue Handelsbarrieren zu errichten.

So plädierte vor allem der US-Handelsbeauftragte Robert Zoellick auf dem FTAA-Gipfel der amerikanischen Wirtschaftsminister Anfang April in Buenos Aires dafür, das kontinentale Freihandelsprojekt schon 2003, zwei Jahre früher als geplant, in Kraft zu setzen. Doch insbesondere Brasilien, neben Mexiko die größte Wirtschaftsmacht in Lateinamerika, legte sich quer. Zu einem früheren Zeitpunkt und ohne die Bereitschaft der USA, ihren Markt so zu liberalisieren, wie sie es von den lateinamerikanischen Ländern fordern, werde es mit Brasilien keine FTAA geben, erklärte Außenminister Celso Lafer.

Auch wegen massiver Proteste der südamerikanischen Gewerkschaften, deren Sprecher ebenfalls Sozialklauseln forderten, gab Zoellick überraschend nach: Washington überlege, seine Anti-Lohndumpinggesetze auf die FTAA nicht anzuwenden. Ungeachtet der US-Agrarlobby verkündete er zudem, auch über die Abschaffung der hohen Subventionen für die eigenen landwirtschaftlichen Produkte könne verhandelt werden, um den US-Markt für lateinamerikanische Produkte zu öffnen. Schließlich einigte man sich aufs Jahr 2005 und schloss einen Kompromiss. Zwar sollen Sozialklauseln in den Vertrag aufgenommen werden. Wer dagegen verstoße, müsse aber nicht mit Sanktionen rechnen, versicherte der ecuadorianische Ministerpräsident und derzeitige FTAA-Vorsitzende Heinz Moeller.

Die ungewöhnliche Kompromissbereitschaft der USA zeigt, dass Bush es mit dem Vertrag über das Freihandelsabkommen eilig hat. Denn das südamerikanische Wirtschaftsbündnis Mercosur, unterstützt von der EU, wird stärker, und Brasilien entwickelt sich zum südlichen Gegenpol der USA. Der brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso forciert die wirtschaftliche Integration Südamerikas im nationalen ökonomischen Interesse. Noch wichtiger für die Eile der USA dürfte der Wettlauf mit der EU und Japan um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt sein. Der südamerikanische Wirtschaftsraum spielt dabei eine besondere Rolle. Die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruaguay und Paraguay erbringen 54 Prozent der lateinamerikanischen Wirtschaftsleistung. Ein starker Mercosur schadet den Interessen der USA, wegen der regionalen Exportgroßmacht Brasilien und wegen der momentanen Strategie, das wirtschaftliche und institutionelle Integrationsmodell der EU zu adaptieren.

Offenbar trägt auch der wachsende Widerstand gegen die »Enterprise of the Americas« zur Hektik des US-Präsidenten bei. Die Interessen der Kritiker sind zwar unterschiedlich, sie lassen sich aber nicht länger ignorieren. Immer häufiger wird beklagt, dass die Verhandlungen über die FTAA ein Jahrzehnt lang unter Auschluss der nationalen Parlamente zwischen den Regierungschefs und den großen Wirtschaftsverbänden geführt wurden.

Dafür gibt es einen guten Grund. Was Bush als »Export der Freiheit« bezeichnet, bedeutet die sicherheits- und wirtschaftspolitische Neuordnung des Kontinents unter der Hegemonie der USA. Ein Teil dessen ist der Plan Colombia, ein von den USA vorangetriebenes militärisches Projekt, das unterm Vorwand der Drogenbekämpfung die Andenregion befrieden und - wie es auf den Landesinformationsseiten aller deutschen Entwicklungsdienste heißt - das »Investitionsklima in Kolumbien verbessern« soll.

Der Export der Freiheit betrifft nicht die Migrationswilligen im Süden. Seitdem es die Nafta gibt, sind nicht nur die Grenzanlagen zwischen den USA und Mexiko aufgerüstet worden. Im guatemaltekischen Grenzgebiet zu Mexiko wurde auf Initiative der USA und in Abstimmung mit den zentralamerikanischen Regierungen ein 20 Kilometer breiter »Sicherheitskordon« eingerichtet. Dort kontrolliert eine neue Grenzpolizei Reisende aus Zentralamerika und weist sie gegebenenfalls zurück.

Die rigiden wirtschaftspolitischen Bestimmungen der Nafta sollen demnächst auf dem ganzen Kontinent gelten. Geschützt werden sollen vor allem die Interessen multinationaler Konzerne, deren Zentrale in den USA liegt. Das zöge die Liberalisierung der in vielen lateinamerikanischen Ländern staatlich protegierten nationalen Märkte und die Abschaffung der teilweise verfassungsmäßig verankerten Bevorzugung staatlicher Unternehmen bei der Auftragsvergabe nach sich. Auch müsste die Privatisierung des öffentlichen Dienstleistungssektors forciert werden. Das alles soll mit einer »Nichtdiskriminierungsklausel« für Dienstleistungen, Märkte und Investitionen erreicht werden. Das Kapitel elf der Nafta-Verträge garantiert jedem ausländischen Konzern das Recht, seine Gleichbehandlung mit einheimischen Unternehmen oder eine Entschädigung für erlittene Diskriminierung juristisch einzuklagen.

Die Erfahrungen mit der Nafta haben gezeigt, dass die von Clinton so bezeichnete »Partnerschaft für den Wohlstand« auf dem lateinamerikanichen Subkontintent unter anderem das Ende der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie der kleinen und mittelständischen Industriezweige bedeuten würde. Zudem ist mit sinkenden Löhnen und einer Ausweitung der transnationalen Billiglohnindustrie in Lateinamerika zu rechnen.

Hunderte von Basisgruppen, NGO und Gewerkschaften rufen zu Protestaktionen gegen den Gipfel in Quebec auf. Zum Schutz des Treffens hat die kanadische Regierung ein Aufgebot an Sicherheitskräften bestellt wie seit 1759 nicht mehr, als man eine Invasion englischer Truppen erwartete. Um die Altstadt, wo der Gipfel stattfinden wird, ist ein drei Meter hoher Schutzwall errichtet worden. Wenn in Quebec alle 34 amerikanischen Regierungschefs ihre Unterschrift unter den Entwurf für das FTAA-Vertragswerk setzen, verpflichten sie sich gleichzeitig, dem Schutz des individuellen Privateigentums oberste Priorität einzuräumen. Die Aufnahme irgendwelcher Demokratie-, Sozial- oder Umweltklauseln in das Vertragswerk kann da nicht mehr als eine kosmetische Korrektur sein.