ARD-Dokumentation »Die Vertriebenen«

Opfer sehen dich an

Was für die Privaten die Reallife Soap ist, ist für die Öffentlich-Rechtlichen die NS-Doku - ein preiswertes Format mit Human Touch. In der jüngsten Reihe der ARD sind jetzt die Vertriebenen dran.

Ich habe immer wieder Sehnsucht nach diesem Land, ich habe meine Seele in Russland gelassen.« Was der einst in der UdSSR internierte ehemalige Wehrmachtssoldat Claus Fritzsche sagt, mag leicht pathetisch klingen. Aber es ist verständlich, wenn man weiß, dass sich besonders die Zivilbevölkerung gegenüber den deutschen Gefangenen human verhielt. Angesichts dessen, was die Wehrmacht in der Sowjetunion verbrochen hat, kaum vorstellbar. Fritzsche zählt zu den Kriegsgefangenen, deren Erzählungen die ARD im November 2000 in ihrer dreiteiligen Reihe »Soldaten hinter Stacheldraht« präsentierte. Sie ist Teil eines mittlerweile kaum noch überschaubaren Ausstoßes öffentlich-rechtlicher Dokumentationen über die NS-Zeit, für die seit rund einem Jahr vor allem TV-Autoren zwischen 30 und Mitte 40 verantwortlich sind und die sich auf den ersten Blick positiv abheben von den Arbeiten vieler altgedienter Vergangenheitsaufarbeiter.

In dieser Woche startet mit »Die Vertriebenen« ein neuer Dreiteiler dieser Machart. Es geht dabei um die Erlebnisse von Polen, Tschechen und Deutschen, die während der Krieges und danach gezwungen wurden, ihre Städte zu verlassen. Jener Hang zum Versöhnlichen, der in den Worten Fritzsches anklingt, ist auch in den neuen Filmen präsent. Hervorzuheben ist erst einmal, dass in keiner Weise der Vernichtungskrieg der Wehrmacht relativiert wird. »Die Vorgeschichte« - was also die einen Deutschen taten, bevor andere oder dieselben Deutschen gefangen genommen oder vertrieben wurden - habe man »nicht verschweigen« wollen, sagt Ulrich Brochhagen, der Koordinator der »Vertriebenen«.

Dieser Pluspunkt ist allerdings nicht allzu viel wert, kranken die Filme doch im Wesentlichen daran, dass die Autoren möglichst allen Seiten gerecht werden wollen. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, das Leid aller, die durch den Krieg irgendwie zu Opfern geworden sind, aus allen möglichen Perspektiven zu betrachten. Die Ergebnisse sind fürchterlich »ausgewogen« - ein Terminus, der bei den Hierarchen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ja positiv besetzt ist. »Wir rechnen damit, dass wir mit 'Die Vertriebenen' auf erhebliche Reaktionen stoßen«, sagt ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann. Aber eigentlich kann man auf die Filme kaum reagieren: Sie lullen ein.

Besonders stolz ist der federführende Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) darauf, dass er es geschafft hat, für beide Reihen per Zeitungsannonce jeweils mehr als 2 000 Zeitzeugen aufzutreiben, »die wir gar nicht alle casten konnten«.

So formuliert es Martin Hübner, Koordinator von »Soldaten hinter Stacheldraht«, der auch an der Redaktion der »Vertriebenen« beteiligt ist. In diesem Zusammenhang preist er die »Kraft und Potenz der authentischen Töne«, und das wirkt ziemlich befremdlich. Erfahrungsberichte, wie wir sie in »Soldaten hinter Stacheldraht« und »Die Vertriebenen« präsentiert bekommen, sind naturgemäß Mixturen aus subjektiver Erinnerung und nachträglich gewonnenen Informationen - sei es aus dem privaten Bereich, sei es aus den Medien. Da die geschilderten Begebenheiten mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen, kann von Authentizität wohl nicht mehr die Rede sein.

Der Frage, warum solche Reihen gerade jetzt entstehen, weichen die Verantwortlichen in der Regel aus. Für die Zeitzeugen sei es »vor ihrem Tod vielleicht die letzte Möglichkeit« gewesen, »von ihren Erlebnissen zu berichten«, sagt Dirk Pohlmann, einer der Autoren. Damit drückt er ähnlich auf die Tränendrüse wie der Norddeutsche Rundfunk in einem Pressetext zur Reihe »Hitlers Krieg im Osten«, die die ARD im letzten Jahr von der BBC TV Historical Programmes Unit übernahm. Die Zeitzeugen äußerten sich hier »so offen über die Ereignisse, wie es nur Menschen tun, deren Lebensabend die letzte Chance bietet, nach Jahren freiwilliger oder erzwungener Verdrängung endlich die Wahrheit zu sagen«. Tatsächlich plauderten in dem Film ehemalige Mitglieder von Wehrmacht und Waffen-SS ungewöhnlich freimütig, teilweise gar launig bis begeistert über die alten Zeiten.

Die Reihen, die Brochhagen und Hübner verantworten, sind als Gegenstücke zu den populären Filmen des rechtskonservativen ZDF-Manns Guido Knopp zu verstehen. Seit rund sechs Jahren beschreibt er in Dokutainment-Reihen wie »Hitlers Helfer«, »Hitlers Generäle« oder »Hitlers Kinder« die Führungskräfte des Nationalsozialismus als irgendwie faszinierende Bestien. Dabei degradiert er seine zahlreichen Zeitzeugen zu Statisten, sieht sie als Menschenmaterial für seine kitschigen Spektakel - anders als die Konkurrenten der ARD, die die Zeitzeugen ausdrücklich in den Mittelpunkt stellen.

Dennoch hat sich das Geschichtsbild von Knopp und Co. durchgesetzt. Die Zuschauerzahlen sprechen für sich. So erreichte die Reihe »Hitler - eine Bilanz« einen Marktanteil von sensationellen 22 Prozent. Stellvertretend für die unkritische Rezeption der Serie steht ein Artikel der TV-Zeitschrift Funk Uhr vom vergangenen Jahr: »An über acht Millionen Kinderseelen«, heißt es da, »vergingen sich Adolf Hitler und seine Mit-Verbrecher während der NS-Zeit.« Als seien Hitler und seine »Helfer« kaum mehr gewesen als pädophile Triebtäter.

Der Historiker Karl-Heinz Roth, der in der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts tätig ist und zahlreiche Forschungen zum Thema Nationalsozialismus publiziert hat, fühlt sich von den Dokumentaristen des Mainstreams, die permanent auf Sendung zu sein scheinen, gewissermaßen »enteignet«. Sie erschwerten die »kritisch-historische Forschung«, sagt er. Wie das funktioniert, illustriert ein Statement des MDR-Autors Pohlmann, in dem er auf die Protagonisten von »Soldaten hinter Stacheldraht« Bezug nimmt: »Für mich sind das alles Menschen.«

Wo das populäre Medium Fernsehen die Historie zum Lieferanten für Geschichten von Menschen und Schicksalen macht, lässt sich analytische Forschung immer schwerer vermitteln. Den gesellschaftlichen Wandel, der durch das Bekenntnis Pohlmanns angedeutet wird - vor 15, 20 Jahren hätte das kaum ein Dokumentarfilmautor vertreten -, blenden seine Kollegen und er durchweg aus. Roth bezieht die Doku-Autoren, die sich von Knopp abgrenzen, ausdrücklich in seine Kritik ein. Sie würden »die Dunstglocke« noch vergrößern. Zumal auch diese Journalisten, wenngleich nicht so exzessiv wie Knopp, Geschichte personalisieren. Auf Hitler als Marketing-Tool jedenfalls scheinen sie nicht verzichten zu können. So musste er bei »Die Vertriebenen« für den bizarren Untertitel »Hitlers letzte Opfer« herhalten. Und »Hitlers Krieg im Osten« hieß im englischen Original bezeichnenderweise »War Of The Century«.

Auch bei der Weiterverwertung der Filmstoffe orientiert sich die ARD am Guru Guido. Nachdem seine buchförmigen Hitler-Produkte eine siebenstellige Gesamtauflage erreicht haben, setzen auch die Macher der seriösen Doku-Reihen auf das Buch zur Serie. Seltsam allerdings, dass die Begleitprodukte zu »Soldaten hinter Stacheldraht« und »Die Vertriebenen« im Propyläen-Verlag erschienen sind, der auch zahlreichen rechten Autoren ein Forum bietet.

»Das Interesse an dieser mörderischen Zeit wird nicht abnehmen«, erklärte Guido Knopp Anfang 2000 am Rande einer Pressekonferenz in Hamburg. Wenn man vernachlässigt, dass er es sagte, so wie andere über einen guten Wein-Jahrgang reden, muss man ihm Recht geben. Den Human Touch des Themas hat auch die für das dritte Quartal 2001 angekündigte Spielfilmproduktion der ARD »Jenseits der Liebe« entdeckt: »Jan Altenberg, Germanistikprofessor in Berlin, macht sich auf die Suche nach dem Mörder seines Vaters, dem (...) Kriegsverbrecher Werner Voigtländer. Jan verfolgt eine Spur zu der Engländerin Sarah Dubbs, bei der Voigtländer zeitweilig untergetaucht war, (...) (und) begegnet Sarahs Tochter Helen (...). Es beginnt eine Liebesgeschichte. Als die Recherchen ergeben, dass Werner Voigtländer Helens Vater war, fällt ein tiefer Schatten über ihre Liebe.«