Ende des Lockerbie-Prozesses

Ein Urteil, viele Zweifel

Nach dem Richterspruch im Lockerbie-Prozess fühlen sich sowohl die libysche Regierung als auch die westlichen Ankläger als Sieger.

Für viele Angehörige der Opfer des Lockerbie-Anschlags, die sich vom Ausgang des Prozesses im holländischen Camp Zeist eine eindeutige Klärung der Schuldfrage erhofft haben, liest sich der Richterspruch wie ein salomonisches Urteil. Denn noch immer steht nicht fest, wer hinter dem Bombenanschlag auf den PanAm-Jumbo über der schottischen Ortschaft Lockerbie im Dezember 1988 steckte, bei dem 270 Menschen starben. Einer der beiden libyschen Angeklagten, Abdel Basset al-Megrahi, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt; er kann frühestens in 20 Jahren begnadigt werden. Sein Mitangeklagter al-Amin Khalifa Fahima wurde freigesprochen. Beide bestreiten, im Auftrag des libyschen Geheimdienstes den Anschlag verübt zu haben.

Die libysche Führung weist ebenfalls jede Verantwortung von sich. Libyens stellvertretender Außenminister Hassan al-Schausch ging sogar noch einen Schritt weiter: Man werde nun ebenfalls vor Gericht ziehen, um Schadensersatz in Höhe von 23 Milliarden Dollar einzufordern - als Kompensation für die Verluste, die Libyen wegen des UN-Embargos entstanden seien. Der Lockerbie-Prozess habe als Vorwand gedient, um eine Aufhebung der Sanktionen aufzuschieben, so Schausch. Da das Verfahren nunmehr beendet sei, müssten diese aufgehoben werden. Dem libyschen Appell schlossen sich auch die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) und die Arabische Liga an.

Sichtlich bemüht, das Urteil als umfassenden juristischen Sieg Libyens zu deuten, war vor allem Staatschef Muammar al-Gaddafi, der den freigesprochenen libyschen Angeklagten bei seiner Ankunft in Tripolis als Volkshelden feiern ließ. Am Samstag demonstrierten 5 000 Menschen vor dem UN-Büro in Tripolis gegen das Urteil, nach Angaben des libyschen Informationsministeriums sollen sich drei von ihnen aus Protest die Kehle durchgeschnitten haben. Unterdessen kündigte Gaddafi forsch an, bald bestechende Beweise beizubringen, die auch die Unschuld Megrahis belegen. Die schottischen Richter hätten dann nur noch drei Möglichkeiten: »Entweder begehen sie Selbstmord, oder sie treten zurück, oder sie geben die Wahrheit zu«, frohlockte Gaddafi.

Tatsächlich dürften sich die drei schottischen Richter mit der Verurteilung Megrahis sehr schwer getan haben. Denn eindeutige Beweise, die für die Schuld des Libyers sprechen, lassen sich nicht finden. Stattdessen stützt sich der Schuldspruch auf eine mehr oder weniger stichhaltige Indizienkette. Megrahi soll als Agent des libyschen Geheimdienstes tätig gewesen sein. Als Mitarbeiter der Libyan Arab Airlines getarnt, habe er die Bombe auf dem Luqa-Flughafen in Malta an Bord geschmuggelt. Zuvor hatte Megrahi angeblich von einem maltesischen Boutiquebesitzer namens Gauci Kleidungsstücke gekauft, die später in den Trümmern der abgestürzten Boeing gefunden wurden. Auf Fotos hatte der Boutiquebesitzer den Angeklagten identifiziert, sich bei Gegenüberstellungen jedoch in Widersprüche verstrickt. Trotz dieser Ungereimtheiten heißt es im Urteil: »In Anbetracht der Tatsache, dass es sich hierbei nicht um eine eindeutige Identifizierung handelt, akzeptieren wir die Aufrichtigkeit von Herrn Gauci.«

Neben dem Boutiquebesitzer, auf dessen Aussagen sich das Urteil vor allem stützt, hatte die Anklage noch zwei weitere zweifelhafte Kandidaten in den Zeugenstand gerufen: einen libysch-amerikanischen Doppelagenten, der die beiden Angeklagten auf dem Flughafen in Malta mit dem Bombenkoffer gesehen haben will, sowie einen Schweizer Waffenhändler, der in den achtziger Jahren u.a. mit der Stasi Geschäfte gemacht hatte.

Der Verteidigung gelang es zwar, vor Gericht die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen in Frage zu stellen. Viele Prozessbeobachter gingen daher lange vor der Urteilsverkündung davon aus, dass die Anklage ins Wanken geraten sei. Die Verteidigung vertrat zudem eine andere Version des Lockerbie-Attentats. Sie machte die von Syrien unterstützte Volksfront zur Befreiung Palästinas - Generalkommando (PFLP-GC) für den Anschlag verantwortlich. Die syrische Regierung weigerte sich jedoch im vergangenen Monat, von der Verteidigung angeforderte Dokumente zur Verfügung zu stellen.

Obwohl die Beweislage somit weiterhin ungeklärt ist, verwarfen die Richter in ihrem Urteilsspruch die Version der Verteidigung und machten Libyen für die Planung und Ausführung des Anschlags verantwortlich. Aus diesem Grund fühlen sich die USA und Großbritannien in ihrer Sanktionspolitik bestätigt. Unisono begrüßten beide Staaten den Schuldspruch. Die libysche Führung müsse die volle Verantwortung für den Anschlag übernehmen und die Hinterbliebenen der Opfer entschädigen. Erst dann könnten die vom UN-Sicherheitsrat 1992 gegen den nordafrikanischen Wüstenstaat verhängten Sanktionen aufgehoben werden. George W. Bush ließ Gaddafi wissen, dass die USA das Embargo in jedem Fall verlängern und den Druck auf Libyen aufrechterhalten würden.

Dass die libysche Führung niemals die Verantwortung für den Lockerbie-Anschlag übernehmen wird, ist sicher. Möglicherweise aber könnte Tripolis zu Kompensationszahlungen an die Hinterbliebenen der Opfer bereit sein, wenn al-Megrahis Berufungsverfahren abgelehnt werden sollte. Dies wäre nicht neu, denn vor zwei Jahren, hatte Libyen wegen des Bombenanschlags 1989 auf einen Jet der Fluggesellschaft UTA über dem Niger Entschädigungen an Frankreich gezahlt.

Trotz seines juristischen Sieges hat Oberst Gaddafi die Vergangenheit in diesen Tagen wieder eingeholt. Während im Lockerbie-Prozess noch nicht das letzte Wort gesprochen ist, muss er sich aus dem Westen erneut den Vorwurf gefallen lassen, als Drahtzieher des internationalen Terrorismus zu agieren, obwohl der Revolutionsführer bereits seit Jahren als Konfliktschlichter in Afrika und jüngst auch als Geiselbefreier in Jolo um Anerkennung und Rehabilitierung auf der weltpolitischen Bühne ringt.