Lateinamerikas Wirtschaftszonen in Konkurrenz

Fast Track zum Freihandel

Lateinamerika muss sich in den nächsten Jahren entscheiden zwischen der gesamtamerikanischen Freihandelszone FTAA und dem Mercosur.

Seit zehn Jahren steht die Gründung eines gesamtamerikanischen Wirtschaftsraums als strittiger Punkt auf der politischen Tagesordnung der USA. Heute herrscht hinsichtlich der Lateinamerika-Politik weitgehende Einigkeit zwischen den beiden großen US-Parteien. Oberstes Ziel ist es, langfristig die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung auf dem Doppelkontinent zu sichern. Deswegen soll im Kongress nun möglichst schnell der Weg für ein Freihandelsabkommen geebnet werden, das von Kanada bis Argentinien reicht.

Das Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (Nafta) zwischen Mexiko, den USA und Kanada 1994 wird von vielen lateinamerikanischen Wirtschaftsexperten als erster konkreter Schritt zur geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone (Free Trade Area of the Americas, FTAA) interpretiert. Sie warnen vor den sozialen Konsequenzen eines solchen Abkommens für die Länder Lateinamerikas und plädieren stattdessen für die Stärkung des wirtschaftlichen Zusammenschlusses der südamerikanischen Staaten (Mercosur).

Nachdem Mercosur sich jahrelang nur auf bescheidenem Niveau zwischen den Vertragsstaaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay entwickelt hatte - Chile und Bolivien haben den Status von Assoziierten -, erhielt das Projekt eine konkretere Form, als die Wirtschaftskrise in Mexiko 1994/95 die Kapazitäten der USA blockierte, wie vorgesehen Chile in den Nafta-Vertrag einzubinden. Ebenso wenig konnte William Clinton damals gegen die Republikaner im Kongress einerseits und die US-Gewerkschaften andererseits den so genannten Fast Track - ein Schnellverfahren für die FTAA - durchsetzen.

Mercosur gewann Zeit, sich zu konsolidieren, den Beitritt von Chile und Bolivien vorzubereiten und Verhandlungen mit den Ländern des zunehmend nationalistisch orientierten Andenpaktes aufzunehmen. Auf dem FTAA-Gipfel 1998 in Chile gelang es den Mercosur-Staaten, als Block mit Nordamerika zu verhandeln und festzulegen, dass ein gesamtamerikanisches Wirtschaftsabkommen keinesfalls vor 2005 in Kraft treten wird.

Seitdem treiben die Währungs- und Wirtschaftskrisen in Brasilien und Argentinien einen Keil zwischen die beiden mächtigsten Mercosur-Partner. Deswegen gibt es zwei mögliche Lösungen: die Dollarisierung, um das Risiko von Währungsschwankungen auszuschließen, oder eine eigene einheitliche Währung für die Länder des Mercosur. Während die brasilianische Regierung sich zumindest offiziell gegen die Einführung der US-Währung ausspricht, ist Argentinien diesem Gedanken deutlich mehr zugeneigt als dem einer gemeinsamen regionalen Währung. In jedem Fall würde die Dollarisierung das definitive Ende des Mercosur bedeuten und gleichzeitig den Weg für die FTAA freimachen.

Im April 2001 wird im kanadischen Quebec der nächste FTAA-Gipfel stattfinden. Anders als Mitte der neunziger Jahre wollen nun auch die Republikaner noch vor dem Treffen den Fast Track im US-Kongress durchsetzen, damit die FTAA 2005 in Kraft treten kann.

Dass sich Republikaner und Demokraten in der Ausrichtung der Lateinamerikapolitik inzwischen so einig sind, hat mehrere Gründe. Zunächst ist Lateinamerika für die USA ein wichtigerer Markt als die EU. 1996 ist der Handel Nordamerikas mit dem Subkontinent im Süden doppelt so schnell gewachsen wie der mit dem Rest der Welt. Außerdem würde die FTAA die Handelsbeziehungen zwischen Lateinamerika und der EU schwächen und nicht zuletzt eine weitere Liberalisierung der lateinamerikanischen Märkte einläuten. Die von den USA vorangetriebene Deregulierung staatlicher Auftragsvergabe in den lateinamerikanischen Staaten dient letztlich der Durchsetzung eines Wirtschaftsprogramms für den ganzen Kontinent, das US-Konzerne begünstigt, die den Protektionismus vieler lateinamerikanischer Volkswirtschaften zynischerweise als Diskriminierung bezeichnen.

In diesem Kontext wird Mexiko von den internationalen Finanzorganisationen als Vorbild herausgestellt. Makroökonomisch weist das Land seit dem Inkrafttreten von Nafta kontinentweit die besten Ergebnisse auf. Einschneidende wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen ermöglichten den Expansionsprozess. Zum einen wurden die Kriterien zur Nutzung der strategischen Ressourcen - in erster Linie des Erdöls - verändert. Um sich von der Schuldenkrise am Anfang der achtziger Jahre zu erholen, machte Mexiko das Erdöl zum neuen Motor der Wirtschaft und förderte die produktive Verkettung mit dem Ausland, insbesondere mit den USA, anstatt das interne Produktionssystem und den internen Markt zu konsolidieren. Gleichzeitig wurde vor allem die Erdöl verarbeitende Industrie dem nordamerikanischen Kapital geöffnet, was den USA den Zugang zu Reserven ermöglichte, die näher und sicherer gelegen sind als die des Mittleren Ostens.

Weitere Umstrukturierungsmaßnahmen der mexikanischen Regierung bestanden in der Ausrichtung der Industrie auf die so genannte Billigproduktion in Weltmarktfabriken, der Reorganisation des Arbeitsmarktes und der Einkommensverteilung sowie der wirtschaftlichen Neuaufteilung des nationalen Territoriums. US-Konzerne nutzten die enorme Lohndifferenz zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten und verwandelten den Norden Mexikos in eine gigantische Freihandelszone, wo mehr als 90 Prozent der benutzten Inputs importiert werden und keine gewerkschaftlichen Rechte für die ArbeiterInnen existieren.

Begleitet ist die wirtschaftspolitische Umstrukturierung Mexikos vom Niedergang der sozialen Indikatoren. Die Öffnung des Handels gegenüber einem sehr viel weiter entwickelten Land - das Bruttosozialprodukt der USA ist etwa 25mal so groß wie das mexikanische - führte in Mexiko zur Deindustrialisierung einheimischer Sektoren, der Vernichtung ganzer Bereiche der traditionellen Landwirtschaft sowie zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit.

Trotzdem wird der so genannte Dritte Weg Mexikos von den schwächelnden lateinamerikanischen Großmächten Brasilien, Argentinien und Chile ausdrücklich als ein Modell hervorgehoben, das den Stillstand der anderen Ökonomien in der Region überwinden konnte, weil es an die US-Wirtschaft andockte. Ein kontinentaler Integrationsprozess unter der Hegemonie der stärksten Ökonomie des Kontinents gewinnt damit an Legitimation. Legitimiert wird allerdings im gleichen Zuge auch die Etablierung einer neuen Ordnung, die real auf einem asymmetrischen Liberalisierungsprozess zwischen Nord- und Südamerika und ideologisch auf zwei Prinzipien beruht: dem juristischen Gleichberechtigungsprinzip und dem ökonomischen Prinzip des freien Wettbewerbs.

Nach dem Scheitern des WTO-Gipfels in Seattle scheint FTAA zu einem regionalen Ersatzprojekt für eine Wirtschaftsordnung zu avancieren, die sich momentan weltweit nicht durchsetzen lässt. In diesem Projekt spielt auch die Sicherheitspolitik eine entscheidende Rolle. Die von den USA stark vorangetriebene Verabschiedung des Plan Colombia, ein militärisch-strategisches Konzept zur Bekämpfung der kolumbianischen Guerillas, soll unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung die US-Militärpräsenz auf den gesamten Subkontinent ausweiten.

Mittelfristig geht es für die politisch sehr heterogenen Länder Lateinamerikas also um die Entscheidung zwischen einer gesamtamerikanischen Freihandelszone und einem erweiterten Mercosur. Erstere würde aus der Region ein riesiges zollfreies Gebiet machen. Mercosur hat hingegen nur dann Erfolgsaussichten als wirtschaftspolitisches Integrationsprojekt, wenn es über soziale Legitimität verfügt. Ansonsten bleibt lediglich die Wahl zwischen einem Neoliberalismus mit den USA oder einem Neoliberalismus ohne sie.

Emir Sader ist Soziologe an der Universität von São Paulo.