Science Fiction mit Ornette Coleman

Höhere Harmonie

Ornette Coleman, unfreiwilliger Vater der Generation Free Jazz und eine der letzten lebenden Jazz-Ikonen, hat das Pech, so richtig hip zu sein. Für die Plattenfirmen ist das Anlass, ständig seine Werke vom Markt zu nehmen und sie nach einiger Zeit, um ein paar Outtakes ergänzt, neu zu veröffentlichen. So wird die Hipness des Künstlers stets aufs Neue gefestigt. Das ist nervig, aber es hilft nichts. Jetzt gibt es eine Reihe von Aufnahmen, die nach Jahren wieder erhältlich sind, und die einen Schlüssel zu seinem verzweigten Îuvre abgeben. Nichts wie ran also.

Coleman spielte die Session 1971/72 während seines kurzen Aufenthaltes bei Columbia ein. Hinter ihm lagen die Sechziger, jene Zeit also, in der man die Altsaxofonisten wahlweise als Krawallmacher brandmarkte oder als Begründer des Free Jazz abfeierte. Allerdings war die heroische Zeit des freien Jazz Anfang der Siebziger zumindest in den USA vorbei, viele Kollegen gingen ins Pariser Exil oder spielten Jazzrock. Mit seinen alten Genossen Billy Higgins, Ed Blackwell, Charlie Haden, Bobby Bradford, Dewey Redman und Don Cherry beharrt Coleman aber auf den radikalen Einsichten des kollektiv befreiten Zusammenspiels. Immer noch werden die Stücke von seinen ebenso eingängigen wie harmonisch vertrackten Themen zusammengehalten, die in den Improvisationen von den Musikern dann als Material verwendet werden.

Wer wissen will, wie das klingt, einen frei pulsierenden und doch unheimlich exakten Groove zu spielen, der muss die »Science Fiction Sessions« hören. Seine Idee eines Free Jazz, der nicht so klingt, als sei er free, ist hier auf den Begriff gebracht - und zwar so, dass man meint: Coleman hätte noch Jahrzehnte einfach so weitermachen können. Pustekuchen. Bereits Mitte der Siebziger tauchte er mit seiner vollelektrifizierten Prime Time Band auf. Das Elektrische ist freilich schon angekündigt: In dem Stück »Rock the Clock« hört man Charlie Haden mit einem fett verzerrten Bass.

»Skies of America« ist das erste (und bislang einzige) seiner sinfonischen Werke, das auf Platte gepresst wurde. Es stammt aus der gleichen Zeit wie die »Science Fiction Sessions«. Markieren diese den vorläufigen Höhepunkt und Abschluss seiner akustischen Arbeiten, so ist »Skies of America«, realisiert mit dem London Symphony Orchestra, das Werk, mit dem er sich als Komponist ins Gespräch brachte. Seine harmolodische Theorie, Einheit und Differenz von Melodie, Harmonie und Rhythmus zusammenzudenken, wird erstmals in Gänze auf das musikalische Material angewandt. Natürlich bleibt das unausgegoren. Die Probezeiten mit dem Orchester waren viel zu kurz. Coleman, der selbst einige vom Weltgeist gestreifte Soli beisteuert, schöpft das Klangvolumen des Orchesters nicht aus.

Das alles ändert nichts an der zutiefst befremdlichen Atmosphäre: »Skies of America« ist Katzenmusik und Wohlklang in einem. Seine freien Improvisationen und die ausnotierten Parts des Orchesters stehen in keinem Widerspruch zueinander, weil das ganze Werk einer ist (und in einem Meta-Sinn eben doch harmonisch, würde Coleman sagen). Das war der Plattenfirma zu bizarr - 1972, nach nur einem Jahr, entließ sie ihn aus dem Vertrag.

Ornette Coleman: »The Complete Science Fiction Sessions»; »Skies of America«. Columbia