Ausstellung »Juden in Steglitz«

Präsenz der Abwesenheit

An die einst große jüdische Gemeinde von Steglitz erinnert heute kaum noch etwas.

Am S-Bahnhof Botanischer Garten gibt es ein kleines Geschäft mit Kurzwaren. Wenn man eintritt, wird man von der etwa 50jährigen Verkäuferin freundlich bedient. Sie ist modisch gekleidet und bietet weit mehr feil als nur Garn und Knöpfe: Damenkonfektion zum Beispiel, »auch Zwischengrößen«. Die Zeit scheint stehen geblieben, man glaubt sich um 60 Jahre zurückversetzt.

Ursprünglich war das kleine Kaufhaus in Berlin-Steglitz seit den zwanziger Jahren in jüdischem Besitz. Das Warenangebot des mittelständischen Familienbetriebs erfreute sich reger Nachfrage. Kaufhaus Boga hieß das Geschäft, das noch zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die Existenz für die Familie von Berthold Silberstein sicherte. Der Sohn eines jüdischen Bäckermeisters und Gastwirts wurde 1885 in Braunschweig geboren und war Frontsoldat im Ersten Weltkrieg. Sein Engagement für das deutsche Kaiserreich nützte ihm aber wenig, als die Nazis an die Macht kamen, die die Silbersteins ausgrenzten, verfolgten und schließlich ermordeten.

Die Geschichte der Familie Silberstein ist nur eine von vielen, die in der Ausstellung »Juden in Steglitz« aufgezeigt werden. Dem Historiker Dieter Fitterling ist es gelungen, jüdische Spuren im Bezirk aufzuspüren. Besonders freut er sich über eine kleine Sensation, die er den Besuchern präsentieren kann: Noch im Oktober 1938, die Nürnberger Rassegesetze waren längst in Kraft, warb eine Zeitungsanzeige für Silbersteins Betrieb. In der Nacht des 9. November 1938 wurden dann die Schaufenster zerstört, der Laden geschlossen und Berthold Silberstein in Sachsenhausen interniert. Einen Monat später wurde er entlassen, die Arisierung seines Betriebes bedeutete für den Kaufmann , seine Frau und seine Kinder Fred und Hansi Silberstein den wirtschaftlichen Ruin und persönliche Demütigung. Die Tochter musste das Lyceum verlassen und von da an eine jüdische Schule besuchen.

Im Oktober 1942 folgte die Einweisung in eine so genannte Judenwohnung in der Holsteinischen Straße - und die Abordnung zur Zwangsarbeit. Berthold Silberstein arbeitete für den Bautrupp der Deutschen Reichsbahn, seine Frau als Löterin bei der AEG Kabelwerke Oberspree. Schließlich wurde das Ehepaar am 17. März 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Von dort brachte sie 18 Monate später ein Deportationszug nach Auschwitz, wo sie getrennt und später ermordet wurden.

Ihre Kinder überlebten die Shoah: Für den Sohn Fred begann nach der Schließung der jüdischen Schulen im Alter von 14 Jahren die Zwangsarbeit im SS-Arbeitslager am Wannsee. Bei der so genannten Fabrik-Aktion verhafteten ihn im Februar 1943 Gestapo und Berliner Polizei an seinem Arbeitsplatz und deportierten den jungen Mann nach Auschwitz. Auch Freds Schwester Hansi kam ins Konzentrationslager. Sie arbeitete in Auschwitz-Birkenau auf der Zahnstation. Die Geschwister wussten allerdings nichts über den Verbleib des jeweils anderen, ebenso wenig über die Deportation der Eltern. Die 19jährige Hansi schickt am 25. August 1943 eine - in der Steglitzer Ausstellung dokumentierte - Karte an die Eltern »mit freundlichen Grüßen nach Berlin«. Absender: »Hansi Silberstein, Lager Birkenau« Erst in Neuseeland trafen Fred und seine Schwester sich wieder.

Dort, am anderen Ende der Welt, lebt Fred Silberstein heute. Am 20. Juli allerdings wird er noch einmal den Wohnort seiner Jugend aufsuchen, um zum Abschluss der Ausstellung »Juden in Steglitz« als Zeitzeuge über die Geschichte seiner Familie zu sprechen. Der Historiker Fitterling begleitet die Ausstellung mit Vorträgen über jüdische Juristen in Steglitz.

In Steglitz praktizierten auch die Ärzte James Fraenkel, Max Goldstein und Alfred Lilienfeld. Fraenkel betrieb in Lankwitz das Sanatorium Berolinum, die beiden anderen eine Nervenheilanstalt in Lichterfelde. Weitere Bürger von Prominenz: der Gartenbauarchitekt Ludwig Lesser und Otto Morgenstern, Leiter des Lichterfelder Gymnasiums. Eine herausragende Rolle spielte Lydia Rabinowitsch-Kempner, die sich als zweite Professorin in der Geschichte Preußens der Bakteriologie widmete und unter anderem auch mit Robert Koch zusammenarbeitete. Ihr Sohn, Robert Kempner, flüchtete vor den Nazis in die USA, kehrte aber später für kurze Zeit nach Deutschland zurück: Als Jurist leitete er die Anklage bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen.

Die schrittweise Deportation und Auslöschung der Juden war zugleich das Aus des progressiven Bürgertums der Jahrhundertwende im Bezirk Steglitz. Das jüdische Leben war hier vielfältig. So gab es ab 1878 den orthodoxen Religiösen Verein Jüdischer Glaubensgenossen und 1909 wurde die liberalere Israelitische Religionsgemeinschaft Groß-Lichterfelde-Lankwitz gegründet. Im Jüdischen Religionsverein Friedenau-Steglitz von 1911 sammelten sich Geschäftsleute, kleine und mittlere Beamte, Ärzte und Rechtsanwälte, um eine reformierte Gemeinde. Noch 1933 zählte sie insgesamt 3 186 Mitglieder. Zusätzlich gab es religiös ungebundene Juden, die meist mit sozialrevolutionären Ideen sympathisierten. Auch Rosa Luxemburg lebte zeitweise in der unmittelbaren Umgebung - an der Straßenbahnstation Südende.

In der Wrangelstraße befand sich die Jüdische Blindenanstalt, außerdem gab es mehrere Wohlfahrtseinrichtungen der 1922 gegründeten B'nai-Brith-Logenvereine. So gab es eine Wohlfahrtsküche und einen Kinderhort in der Handjerystraße. In der Düppelstraße stand die Synagoge der ehemals blühenden Gemeinde. Heute sind nur wenige Überreste des Gebäudes erhalten, das Grundstück ist im Besitz eines Privatmannes.

Nur eine Spiegelwand auf dem Marktplatz am Rathaus Steglitz kündet heute von der Präsenz der Abwesenheit des deutschen Judentums im Südwesten Berlins. Auf ihr sind die Namen von Deportierten aus dem Bezirk aufgelistet. Ihre Länge entspricht übrigens exakt der Länge der ehemaligen Synagoge in der Düppelstraße.

»Juden in Steglitz« - noch bis zum 20. Juli im Heimatmuseum Steglitz, Drakestraße 64a. Öffnungszeiten montags 16-19 Uhr, mittwochs 15-18 Uhr, sonntags 14-17 Uhr oder nach Voranmeldung unter Telefon 832 86 63

Veranstaltung mit Fred Silberstein: »Wie ich Auschwitz überlebte - und weiter«, in Verbindung mit der Initiative Haus Wolfenstein am 20. Juli 2000 im Heimatmuseum Steglitz, 19.30 Uhr