Emanzipatorische Antimoderne

Ausweitung der Kampfzone? Befriedung!

Die Authentiker sind nicht authentisch und die Anti-Authentiker klappern mächtig hinterher. Ein Beitrag zur Fortsetzung der Debatte um »Big Brother« und Houellebecq.

Die Kulturkritik führte sich auf, als habe der Weltgeist seinen ersten Porno gesehen. Es ging aber nur um »Big Brother«. Gegen diese Real-Life-Soap ist einiges vorgebracht worden, von Menschenrechtsverletzung bis Manipulation, und den Vogel schoss dann die investigative FAZ ab, als sie die »geheimen Regeln« im Endemol-Container in ihrem Feuilleton veröffentlichte. Großalarm: »Die Fernsehsendung 'Big Brother' (...) war nicht so harmlos, wie es in den letzten hundert Tagen schien. In seinem Regelwerk (...) wurde den Teilnehmern noch die kleinste Regung im Fernseh-Container in Hürth vorgeschrieben. Sie wurden nicht nur rund um die Uhr überwacht, was alle wussten, sondern auch, was niemand ahnte, in jeder anderen erdenklichen Weise instruiert. Der Debatte über Freiwilligkeit, Selbstbestimmtheit und Rollenspiel der Probanden entzieht dieses Regelwerk jede Grundlage. Endemol hat alles geplant: die Aktionen im Container wie die Reaktion von außen.« (FAZ)

Die skandalöse Hausordnung enthüllte allerdings nur Vorschriften, die man eh schon kannte, z.B. Vereinbarungen über Exklusivrechte zwischen Kandidat und Firma, oder so aufregende Dinge wie Schlachtverbote, Umgang mit hauseigener Technik (Mikros vor dem Duschen abnehmen) usw. Worüber empörte sich also die FAZ? Die Kritik galt ja nicht den einzelnen Regeln, sondern der Tatsache, dass es überhaupt Regelungen, also Regieanweisungen, gibt, dass also das versprochene Authentizitäts-Fernsehen gar nicht authentisch ist.

Mit links-spezifischer Theorie-Ausstattung argumentiert Guillaume Paoli gegen »Big Brother« (Jungle World, 24/00), der die falsche Authentizität im Medienkapitalismus zu entlarven sucht; dazu steckt er die Kandidaten kurzerhand in den Guy-Debord-Container, aus dem man im Unterschied zur Endemol-Box nun wirklich nicht wieder lebendig herauskommt.

Drinnen soll es - berichtet Paoli - so aussehen: Integrale Sklaven, die die Gesetze des Markts freudig internalisiert haben, spielen diese nach, bewegen sich auf New-Work-gerecht flachen Hierarchien und gehen sogar dann beim Pinkeln in Hockstellung, wenn sie Männer sind bzw. waren, denn authentische Männer (und Frauen) sind in der Supermarkt-Gesellschaft ja nicht mehr zu haben. Und: Zeit- und Weltgeist haben die Kandidaten fest im Griff, die merken also nicht mal, was mit ihnen geschieht und sind damit noch ärmer dran als der Houellebecq-Melancholiker aus »Kampfzone«, der noch den tollen Satz sagen kann: »Ich habe das Gefühl, eine Hühnerkeule unter Zellophan zu sein.«

Mal abgesehen von der Frage, ob man diese authentischen Männer und Frauen überhaupt würde haben wollen, wirkt die Paoli-Interpretation erst mal hübsch übertrieben und ziemlich schlüssig. Ja, aber doch nur, wenn man an der Re-Aktivierung von Entmündigungs-Argumenten und Alles-Trottel-Thesen aus der Steinzeit der Fernsehkritik interessiert ist. Die gingen davon aus, dass das Publikum hilflos vor dem Bildschirm hockt und dabei verstrahlt wird. Dass das Publikum seinerseits etwas mit dem Medium macht und vielleicht mal so etwas wie Medienkompetenz erwirbt, kam gar nicht vor. Paoli wendet dieses Modell - das auch in der Diskussion um Littleton eine Rolle spielte - umstandslos auf die Fernseh-Kandidaten an.

Authentizität, das ist ein strategisches Argument der Kulturkritik, hochflexibel einsetzbar, vor allem dort, wo die Links/Rechts-Progressiv/Reaktionär-Schemata versagen, und es kommt auf Sprecherposition und Kontext an, ob es der Nobilitierung einer Sache oder Person dient oder als Schlammpackung im Gesicht des Gegners landet. Das Authentische scheint sowohl als Bezugspunkt kultureller Produktion wie auch als Gegenstand und Argument der Kritik zu einem Zeitpunkt wichtiger geworden zu sein, wo klar wird, dass dieser Rohstoff im Medien- und Gentech-Kapitalismus knapp ist bzw. als Rohstoff nicht zu haben sein wird (und so auch nie zu haben war).

Weil fast all die, die unter dem Verdacht stehen, Authentizitätsterrorismus zu betreiben, aber längst auf dem nächsten Level angekommen sind, also mit Verfahren zur Erzeugung von Wirklichkeit, Leben, Praxis befasst sind, klappert der Authentizitäts-Vorwurf bisweilen mächtig hinterher, sucht den Gegner noch irgendwo auf der Höhe von Blut-und-Boden zu treffen, aber der ist längst irgendwo im Netz oder Labor abgetaucht und dort keineswegs mit dem Authentischen selbst beschäftigt, sondern eben mit dessen Herstellung.

Unter der Diskursoberfläche, auf der sich die Kulturkritik bewegt, kämpfen im Moment ganz unterschiedliche Leute um Zeit (Redezeit, Sendezeit und die philosophische Dimension von Zeit) und die Verfahren zur Produktion von Authentizität, wobei der französische Autor Michel Houellebecq (»Ausweitung der Kampfzone«, »Elementarteilchen«), Theater-Regisseur Christoph Schlingensief und »Big Brother»-Chef John de Mol nicht zufällig die meistdiskutierten sind; sie produzieren die interessantesten Effekte. Obwohl Rainald Goetz nicht die großen öffentlichen Diskursmaschinen antreibt, sondern untergründiger in ein ausdifferenziertes Milieu hineinwirkt: Wenn es um Authentizitäts-Produktion geht, muss Goetz, der ja mit »Abfall für alle« für die Literatur die Real-Life-Soap mit Echtzeit-Anspruch im Netz schon durchgespielt hat, unbedingt zugeschaltet werden.

Goetz, de Mol und Schlingensief operieren an Schnittstellen medialer Kommunikaton, d.h. der angestammte Produktionsort - Theater, Literatur, Fernsehen - sind hier die Operationsbasis, von der aus andere Stationen bzw. Medien angelaufen werden. Erst die technische Re-Produzierbarkeit eines Textes innerhalb eines anderen zweiten oder dritten Mediums und die Möglichkeit, diese unterschiedlichen Medien miteinander kommunizieren zu lassen, macht das Projekt/Werk aus. Prinzip: Multimedia und Verschaltung, inzwischen auch nicht mehr ganz frisch oder sonderlich aufregend. Allerdings passiert damit in dem Moment wieder etwas Neues, wo ein Großereignis wie »Big Brother« sich dieses Verfahrens bedient - konkret: Telefon-, Video-, TV- und Internet-Technik koppelt -, und zwar schlicht dadurch, dass die Benutzeroberfläche um ein Vielfaches vergrößert und das Multimedia-Ding in den Hauptstrom der Gesellschaft transportiert wird.

Sex, Lügen, Video: Auch in Tom Holerts Beitrag (Jungle World, 25/00), der aus einer hysterisch-aufgeblasenen Diskussion viel heiße Luft ablassen kann, bleibt allerdings der Verdacht übrig, dass die Video-Soap ein Produkt der Überwachungsgesellschaft sei. Aber doch nicht nur, und keinesfalls ist sie deren originäres Produkt. Die Video-Technik stand ja von vornherein unter Verdacht, die Wirklichkeit zu manipulieren, und ganz wird man den Eindruck nicht los, dass die »Big Brother»-Show auch gegen das Misstrauen gegenüber dem technischen Medium Video kämpfen muss. Anders als das Fernsehen, das als Institution mit allen amtlichen Regularien und viel symbolischer Autorität in und über die Gesellschaft kam, hat das Medium Video, das sich als dezentral organisierte Technik über ganz verschiedene Gruppierungen und Nutzer (Familie, Polizei, Porno, Pop etc.) verbreitet hat, keinerlei institutionelle und symbolische Autorität.

Das Video - mal mit Ausnahme des unter der Obhut des Fernsehens stehenden Musik-Videos - ist kein Medium der schönen Bilder, sondern führt Ladendiebe und prügelnde Kindermädchen vor, Randale und Polizeigewalt, und selbst die private Familien-Saga auf Video zeigt unbarmherzig das Hässliche. Innerhalb dieses Spektrums - vom Geburtstags- bis zum Snuff-Video - hat sich »Big Brother« mittig platziert.

Ausweitung der Kampfzone? Im Endemol-Container ging es so ruhig zu wie im Familienfernsehen der Fünfziger. Absehbar ist zwar auch, dass sich das ändern wird und zukünftige Reality-Serien stärker auf Action, Sex und Streit angelegt sein werden, heißt also: eine ganz ähnliche Konfrontations-Entwicklung wie das Talkshow-Format nehmen werden, das spürbar auf Eskalation hinauslief und sich damit aber auch diskreditiert hat. Bis zu diesem Punkt, an dem sich die Reality-Soaps selbst ins Abseits manövrieren, wird allerdings noch viel schöne Diskussionskultur zu besichtigen sein. Ausweitung der Kampfzone? Warum denn nicht umgekehrt: Befriedung der Kampfzone!