Gedenken an Katyn

Nationale Epen

Überraschend harmonische Töne waren vergangene Woche beim 60. Jahrestag von Katyn von den Regierungen in Moskau und Warschau zu hören. Kurz vor den Gedenkfeierlichkeiten rief der russische Präsident Wladimir Putin seinen polnischen Amtskollegen Alexander Kwasniewski an und bat ihn, »die Angelegenheit Katyn trotz aller Tragik zu einer Suche nach vollständiger Verständigung und Versöhnung zwischen Russland und Polen« werden zu lassen.

Gleichzeitig informierte Putin den polnischen Präsidenten über den Fund neuer Gräber und schlug eine gemeinsame Untersuchungskommission vor. Man müsse die Kapitalverbrechen von Katyn verurteilen, aber auch eine Annäherung der polnischen und russischen Nation forcieren, antwortete Kwasniewski.

Noch wohlgesonnener äußerte sich der polnische Premier Jerzy Buzek: An Katyn sei nicht die ganze russische Nation schuld, sondern der Stalinismus. »Katyn, Zeichen des polnischen Leids, könnte auch ein Zeichen der gemeinsamen Erinnerung sein«, meinte Buzek im polnischen Fernsehen. In dem Ort nahe der westrussischen Stadt Smolensk hatte der sowjetische Geheimdienst NKWD 1940 Tausende von polnischen Reserveoffizieren ermordet.

Solch freundliche Dialoge zwischen der russischen und polnischen Führung gab es zuletzt wohl zu Zeiten Gorbatschows. Seitdem hatte sich das Verhältnis stark abgekühlt. Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen nach dem Nato-Beitritt Polens im vergangenen Jahr. Russland bewertete den Beitritt damals als aggressiven Akt.

Hinzu kam, dass Polen seinen großen Nachbarn in der jüngsten Vergangenheit mehrfach provozierte. Erst wurden russische Straßenhändler im Nordosten Polens abgeschoben und die Grenzkontrollen verstärkt. Dann wurden russische Diplomaten wegen angeblicher Industrie-Spionage des Landes verwiesen. Im Februar schauten polnische Sicherheitskräfte zu, als eine Gruppe polnischer Anarchisten über den Zaun des russischen Konsulats in Poznan kletterte, die Fahne vom Mast holte und sie verbrannte. Die symbolische Tat sollte auf den Krieg in Tschetschenien aufmerksam machen. Im Gegenzug kam es daraufhin zu anti-polnischen Kundgebungen vor den Vertretungen in St. Petersburg und Moskau.

Auf russischer Seite scheint Putin für den neuen Kurs verantwortlich zu sein. Die zu Russlands Nachteil verschobenen Machtpositionen in Mittelosteuropa werden mittlerweile in Moskau akzeptiert. Schließlich möchte man wieder ein partnerschaftliches Verhältnis zu Polen aufbauen, das vor allem ökonomisch immer wichtiger wird.

Die Geschichtspolitik bietet sich dabei besonders für Versöhnungsgesten an, nicht nur weil sie in der polnischen Öffentlichkeit gut ankommen - Putins Sympathiewerte stiegen in Polen sofort sprunghaft an. Der russische Präsident bezieht seine geschichtliche Legitimation noch weniger als Jelzin aus der Sowjetzeit. Auch in Russland hat sich eine bürgerliche Schicht etabliert, die eine »Aufarbeitung der Geschichte« fordert. Die kommunistischen Herrscher werden dabei zu Okkupanten umgedeutet, die sowohl das russische wie auch andere Völker unterdrückt hätten. Heute interessiert man sich für die Gebeine der Zarenfamilie. Auf den Sockeln, auf denen noch kürzlich Lenin dem Volke die Richtung wies, steht nun Nikolaus II.

Mit der Nato im Rücken und dem EU-Beitritt im Auge kann Polen voller Selbstbewusstsein gegen den verblassten Hegemon im Osten auftreten. Mit großzügiger Geste wird das neue Bemühen Putins anerkannt - nicht ohne ihn daran zu erinnern, dass Polen nicht gewillt ist, einen Schluss-Strich zu ziehen. Kwasniewski: »Katyn ist und bleibt ein Stachel in unserer Erinnerung.« Andrzej Wajda, der polnische Großregisseur mit dem Riecher für Nationalepen, hat schon angekündigt, das Drama von Katyn auf Zelluloid zu verewigen.