Rote Füße auf schwarzem Grund

Robert Kurz will das Paradies auf Erden, ein Schlaraffenland, wo niemand mehr arbeiten muss. Dass Arbeit jedoch nicht nur historisch, sondern auch logisch Voraussetzung für Muße ist, ignoriert er.

Robert Kurz' Buch ist der Versuch einer Abrechnung mit der Marktwirtschaft, kein Abgesang auf dieselbe. Dafür wäre es auch noch zu früh, denn eine soziale Rebellion gegen ihre Weltherrschaft ist zur Zeit nicht in Sicht. Trotzdem liefert Kurz einen Abgesang, allerdings einen ganz besonderer Art, und der klingt so:

»Am wahrscheinlichsten ist es gegenwärtig allerdings, daß die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat, weil der 'Bewußtseinssprung' nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung erforderlich wäre. Der Kapitalismus kann dennoch nicht weiterleben, weil seine innere Schranke ebenso blind objektiviert ist wie der Funktionsmechanismus der 'schönen Maschine', der an sich selbst zuschanden wird. Bleibt die radikale Gegenbewegung aus, ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird. Selbst dann wäre für eine Minderheit immer noch wenigstens eine Kultur der Verweigerung möglich. (...) Unter den gegebenen Umständen kann das nur heißen, jede Mitverantwortung für 'Marktwirtschaft und Demokratie' zu verweigern, nur noch 'Dienst nach Vorschrift' zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist. Selbst wenn es nur wenige sind, die im Zerfallsprozeß des Kapitalismus eine neue innere Distanz gewinnen können: Es ist immer noch besser, Emigrant im eigenen Land zu werden, als in den inhaltslosen Plastikdiskurs der demokratischen Politik einzustimmen. Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst gar nichts mehr frei ist.«

Um zu dieser für den Kapitalismus ganz ungefährlichen Prognose zu gelangen, mutet Kurz Leserinnen und Lesern die Lektüre von 791 Seiten Text zu. Genau gelesen, lässt er sie allerdings nicht im Unklaren darüber, dass er zu den happy few gehört, die sich einer negativen Utopie hingeben können - nicht zur »Masse der Arbeitstiere«, die bei Strafe des Verhungerns ihrer Kinder dazu verdammt sind, in dieser Marktwirtschaft zu arbeiten, Tag für Tag, Jahr für Jahr, ohne Möglichkeit der Verweigerung. Da wäre es einfacher, allen zu empfehlen, in einen permanenten Fortpflanzungsstreik zu treten, auf dass die Menschheit sich ohne weiteres Aufheben binnen einer Generation selbst abschaffe.

Ein solcher Vorschlag wäre für Kurz völlig unzulässig. Seiner Meinung nach kann nämlich »die emanzipatorische Antimoderne«, der er sich zurechnet, »nur der vollständige Bruch mit jeder Art von Naturalisierung des Gesellschaftlichen sein; sie begreift die Gesellschaft als eine Daseinsebene sui generis, die nur in sozialen, psychischen und historischen Kategorien zu entschlüsseln ist«, im Klartext: Es gibt eine chinesische Mauer zwischen Natur und Gesellschaft, der Mensch als biosoziale Einheit und als Produkt biosozialer Evolution existiert nicht und ist überhaupt kein Diskussionsgegenstand, er ist wie Manna vom Himmel gefallen.

Dass er durch Abstammung und Fortpflanzung, Geburt und Tod, Stoffwechsel und Arbeit ein Teil der Natur war, ist und bleibt, diese Vorstellung ist Kurz völlig fremd. Im Gegenteil, unter der Überschrift »Sozialismus für höhere Wirbeltiere« vermerkt er: »Die entscheidende Schnittmenge von Sozialismus und Rassismus/Antisemitismus war der positiv besetzte Begriff der 'Arbeit'. In dem Maße, wie die sozialistische Arbeiterbewegung das Selbstverständnis der alten Sozialrevolten, die sich auf tradierte 'Rechte' und in diesem Kontext auf Muße ('Müßiggang'!) bezogen hatten, durch die Leistungskategorie der 'Arbeit' selbst ersetzte, diese zum positiven Kern ihrer Identität machte und damit die vom Liberalismus seit Beginn der Neuzeit betriebene bürgerliche Kampagne ('Müßiggang ist aller Laster Anfang') übernahm, mußte sie auch anfällig werden für Ressentiments gegen Leistungsschwache, 'Ungläubige' in Sachen Religion der 'Arbeit' und vermeintliche 'Nichtarbeiter'. Damit war jenes bis zu einem gewissen Grad 'erlaubte', weil das bürgerliche Universum nicht in Frage stellende Ausspielen der einen kapitalistischen Kategorie gegen die andere, der 'Arbeit' gegen das Geld, schon grundsätzlich angelegt - und genau diese Schwachstelle mußte zum Einfallstor für Biologismus, Rassismus und Antisemitismus werden.«

Für Kurz ist also der Begriff der Arbeit schlechthin negativ besetzt. Wie allerdings die bisherige Geschichte der Menschheit und auch ihre Zukunft ohne arbeitende Menschen zu denken ist, bleibt im Dunkeln, denn einen positiven Begriff der Arbeit gibt es bei ihm nicht, nur eine kapitalistische Kategorie, die »Arbeit«. Dass Arbeit nicht nur historisch, sondern auch logisch Voraussetzung für Muße ist, i wo - Kurz will das Paradies auf Erden haben, wo niemand arbeiten muss, also ein neues Schlaraffenland. Sicherlich kann das lebendige Spannungsverhältnis von Arbeit und Muße sehr verschiedener Art sein, entweder der überkommenen, wo viele arbeiten und manche müßig sind, oder der meines Erachtens erstrebenswerten Art, wo die Arbeitsfähigen zwar arbeiten müssen, aber so wenig, dass alle auch und zunehmend viel Zeit zur Muße haben, für Kurz jedoch gibt es nur den toten Gegensatz.

Vom empirischen Material her liefert Kurz zwar nicht viel Neues, aber ein ob seiner Eindimensionalität beeindruckendes Schwarzbild der Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus, mit einer Vielzahl instruktiver Beispiele versehen, die er historischen Darstellungen sowie aktuellen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften entnommen hat. Beim Lesen fragte ich mich immer wieder und immer öfter, ob es viele gibt, die diese tour de force durch eine vollständige Einöde auf sich nehmen werden - achthundert Seiten über Elend, Verelendung, Verelendete und Elende.

Im Grunde liefert Kurz für einen relativ kurzen Abschnitt der Menschheitsgeschichte, eben den des Kapitalismus, Illustrationen zu dieser sehr viel allgemeiner gehaltenen Aussage: »Da die Grundlage der Zivilisation die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere Klasse ist, so bewegt sich ihre ganze Entwicklung in einem fortdauernden Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse, d. h. der großen Mehrzahl. Jede Wohltat für die einen ist notwendig ein Übel für die andern, jede neue Befreiung der einen Klasse eine neue Unterdrückung für eine andre Klasse.«

Wer diese Aussagen für richtig hält, obwohl sie von dem »Prästalinisten« Friedrich Engels stammen, wird trotzdem einige der von Kurz zitierten Beispiele mit Entsetzen lesen und manche seither eingetretene Entwicklung in ein Weltbild einordnen können, dessen Statik unverändert richtig ist und dem sich die Welt im vergangenen Jahrzehnt wieder sehr genähert hat: Der Siegeslauf des Kapitalismus hat ihn wieder erkennbar gemacht, und déjˆ vu ist angesagt - sofern der alte Engels zur Kenntnis genommen worden ist. Aber von so vielem, was Kurz beschreibt, weiß er nicht, dass es »einst« zu den so genannten Grundwahrheiten des Marxismus gehörte, die im Angesicht des »Realsozialismus« niemand mehr hören wollte, die nicht einmal mehr in den Werken der »Klassiker« nachgelesen werden sollten.

Mit dem abgelebten »Realsozialismus« hat Kurz übrigens nichts im Sinn, und wer meinte, das Schwarzbuch würde eine Gegenschrift im Stile des sattsam bekannten »Schwarzbuch des Kommunismus« sein, sah sich zum Glück schwer enttäuscht. Für ihn ist der gewesene »Realsozialismus« nur eine Spielart des Kapitalismus, auf einer »nachholenden Industrialisierung« aufgebaut, die nicht in der Lage gewesen ist, dem Konkurrenzdruck des technologisch weiterhin überlegenen Gegners standzuhalten.

Dabei weiß Kurz durchaus zu differenzieren zwischen faschistischem Deutschland, stalinistischer Sowjetunion und fordistischer USA, kritisiert Geschichtsrevisionismus ˆ la Nolte ebenso wie alte und neue Totalitarismustheorien. Aber in der Leichtigkeit, mit der er sich zwischen den drei politisch grundverschiedenen Ausprägungen moderner Industriegesellschaft hin und her bewegt, sie vergleicht ohne sie gleichzusetzen, werden doch Wirkungen des historischen Relativismus sichtbar. Ganz deutlich werden sie in den Passagen, die der Kritik des Antisemitismus gewidmet sind, wo am Ende alles über einen Kamm geschoren wird - Absolutismus und Aufklärung, Liberalismus und Frühromantik, Frühsozialismus und Anarchismus, Kommunismus und Sozialdemokratie, Sozialdarwinismus und Spätromantik, alles querbeet. Von den exzellent ausgesuchten Zitaten her mag das alles richtig sein, aufs Ganze gesehen ist es grundfalsch, und dies resultiert aus den oben zitierten ideologischen Prämissen.

Es ist ebenso einfach wie sinnlos, all das, was im Interesse der Marktwirtschaft genutzt wird, allein im Orkus kapitalistischer Verwertung anzusiedeln. Sicherlich, diese Produktionsweise hat ihre Fähigkeit, alle ursprünglich gegen sie gerichteten Maßnahmen und Bewegungen in sich zu integrieren und damit in das Gegenteil des Beabsichtigten zu verwandeln, in einem kaum für möglich gehaltenen Ausmaß unter Beweis gestellt. Beispielsweise wäre es ohne den vom Proletariat beharrlich geführten Kampf um Arbeitszeitverkürzung der Bourgeoisie niemals möglich gewesen, eine Erhöhung der Arbeitsintensität durchzusetzen, die die Profitabilität der Gesamtarbeit auf ein ganz neues, so von niemandem erwartetes Niveau gehoben hat. Wer lediglich das nackte Resultat sieht, die Profitträchtigkeit von Arbeitszeitverkürzung, kann diesen gewerkschaftlichen Kampf allein als systemstabilisierend bewerten.

Dabei ist gar nicht in Abrede zu stellen, dass gerade der erfolgreiche Kampf des Proletariats eine der zentralen Prognosen aus dem »Kommunistischen Manifest« ad absurdum geführt hat. Dort hieß es noch: »Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herangearbeitet, wie der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eignen Klasse herab.«

In der Tat haben sich die Mitglieder des Proletariats inzwischen zu Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft »herangearbeitet« und haben nunmehr dieselbe Position wie früher Sklaven und Leibeigene. Sie sind auch deshalb nicht mehr fähig zu systemüberwindender Aktion.

Kurz trauert den alten Sozialrevolten und Maschinenstürmern nach und sieht die Dritte Industrielle Revolution als Ausdruck der »unbewältigbaren Weltkrise dieser Produktions- und Lebensweise«. Eine bemerkenswerte Parallele: Während der Ersten Industriellen Revolution gingen die alten Sozialrevolten unter und im »Manifest« wurde die »Endkrise« des Systems verkündet; 75 Jahre später, in der Zweiten, der fordistischen Revolution ging die alte Sozialdemokratie unter und die Kommunistische Internationale verkündete die »Endkrise»; heute, in der Dritten, ist der Parteikommunismus untergegangen, und Kurz verkündet die »Endkrise«. Alle drei Prognosen basieren auf einer gemeinsamen Vorstellung: Nichts mehr kann geschaffen werden, was einerseits mit der bestehenden Produktionsweise vereinbar ist und andererseits doch eine neue Entwicklungsstufe derselben darstellt, eine neue »Betriebsweise« (Marx). Kurz sieht diese Parallelen nicht, hört nicht den Gleichklang mit anderen Weltuntergangsprophetien.

Seine Prognose muss nicht falsch sein, sie kann sehr wohl bittere Realität werden. Dass er sie aber als neu und einzig wahr ansieht, das erinnert mich an einen Witz, der vor 1989 in der DDR kursierte. Er besagte, dass das alte SED-Parteiabzeichen mit den verschränkten Händen durch ein neues ersetzt werden solle: Rote Füße auf schwarzem Grund - die Genossen tappen im Dunkeln. Tappen wir nun vereint im Dunkeln?

Bisher erschien zur Auseinandersetzung mit Robert Kurz' »Schwarzbuch« »Am Ende aller Welten« von Anton Landgraf, Jungle World, Nr. 5 / 00. Die Diskussion wird fortgesetzt.