Bilder fallen ins Wort

Probleme filmischen Erinnerns: James Molls »Die letzten Tage« bringt sich in Widersprüche.

Die letzten Tage« lautet der Titel des ersten Kino-Dokumentarfilms der von Steven Spielberg ins Leben gerufenen Survivors of the Shoah Visual History Foundation. Der Regisseur James Moll zeichnet den Lebensweg von fünf aus Ungarn stammenden Überlebenden des Holocaust nach. Neben dem heutigen US-Kongressabgeordneten Tom Lantos sind dies die Künstlerin Alice Lok Cahana, die Lehrerin Renée Firestone, der Geschäftsmann Bill Basch und die Hausfrau Irene Zisblatt. Moll hat sie zurück an die Orte ihrer Jugend gebracht und an die Orte des Grauens, dem sie ausgesetzt waren.

Lantos etwa las im Alter von zehn Jahren in Budapest, Hitler sei in Wien einmarschiert: »Ich spürte, dass dieser historische Moment auf das Leben der ungarischen Juden, auf meine Familie und mich einen gewaltigen Einfluss haben würde.«

Genau dies, die individuelle Erfahrung dessen, was dann kam, möchte Moll in den Mittelpunkt seines Films stellen. Warum, aber auch wie konnten Menschen im Konzentrationslager überleben?

Moll kontrastiert hier den Schrecken - die Trennung von Familien, Transporte in Viehwaggons, Mord an Eltern, Geschwistern und Freunden - mit den Techniken des Überlebens: Sehr direkt etwa, wenn Bill Basch erzählt, er habe einen kranken Freund auf der Flucht zurücklassen müssen, als ihn ein SS-Mann stellte - er werde mit seinem Gefährten sterben, wenn er ihn nicht fallen lasse. Irene Zisblatt berichtet von ihren Brillanten. Die Mutter hatte sie in ihr Kleid eingenäht, damit sie Brot kaufen könne, falls die Familie getrennt würde. Die nächsten Jahre rettete Zisblatt ihren für das Überleben wichtigen Besitz in Ermangelung passender Verstecke durch beständiges Verschlucken und Ausscheiden.

Renée Firestone, die heute für das Simon Wiesenthal Center und die Shoah Foundation Erwachsenen und Studenten Vorträge über ihre Erfahrungen aus der Nazi-Zeit hält, bestreitet eine zentrale Sequenz des Films. Sie war gemeinsam mit ihrer Schwester in einer Baracke von Auschwitz untergebracht. Eines Tages war die Schwester nicht mehr da. Erst sehr viel später sollte Firestone erfahren, dass das Mädchen zu medizinischen Versuchen missbraucht worden war und dabei umgekommen war. Für das Molls Projekt hatte sie sich bereit erklärt, einen der Mitarbeiter des medizinischen Leiters Josef Mengele zu treffen: den Arzt Dr. Hans Münch. »Sie waren mit ihrer Schwester in Auschwitz?« fragt der freundlich wirkende alte Mann Firestone, die sich weitere Aufklärung erhofft. »Dann wissen Sie ja, dass die Überlebenszeit dort nur sechs Monate betrug.«

Solche Szenen werden mit den Interviews in sehr schnellen Schnitten übereinandergelegt, die Erzählungen mit seltenen Fotografien illustriert, Bilder von Leichenbergen und Lager-Szenen eingeblendet. Drei Soldaten kommen zu Wort, die mit den amerikanischen Truppen Deutschland besetzten und ihre Eindrücke von den befreiten Lagern schildern. Der Anspruch des Films: Anhand der individuellen Leidensgeschichten soll klar werden, dass das Schicksal der europäischen Juden nicht namen- und gesichtslos war, sondern konkrete Menschen meinte. Die Abstraktheit der Darstellung soll sich in der Erzählung der Verfolgten auflösen. Auf einen Off-Kommentar wurde verzichtet.

»Eine einzigartige Geschichte vom geistigen Triumph des Menschen«, fasst Regisseur Moll zusammen, es sei wirklich einzigartig, was in Ungarn geschehen sei. »Ich hatte mir vor 'Die letzten Tage' nie Gedanken darum gemacht, dass der Zweite Weltkrieg für die Nazis eigentlich schon zu Ende war, als sie Ungarn besetzten und einen umfassenden Völkermord starteten. Sie opferten sogar die eigenen Kriegsbemühungen, um die so genannte Endlösung auszuführen.«

So richtig dies sein mag, so widersprüchlich ist die gesamte Ausführung des Films. Der Holocaust hat nur wenig mit einem »geistigen Triumph des Menschen« zu tun. Den will Moll in den Interviews einfangen, um ihn für die Nachwelt zu retten, vor allem für den Nachwuchs, da sich die Shoah Foundation nach eigenem Anspruch der Erstellung pädagogischen Materials widmet.

Aber das individuelle Leiden ist massenmedial nur schwer vermittelbar. »Die letzten Tage« kommentiert zwar nicht aus dem Off, aber mit filmischen Mitteln. Es dauert nicht lange, bis die schnellen Schnitte genau zum Gegenteil von Individualisierung führen - zur Namenlosigkeit. Nie verweilt die Kamera längere Zeit auf den Erzählenden, immer neu müssen die Eindrücke sein, als würde der Regisseur den Zeugen nicht trauen. Die Kombination mit beliebigen Kriegsaufnahmen begünstigt zwar eine gewisse spannungstreibende Dramaturgie, macht das Erzählte jedoch auch beliebig: Ausgerechnet die Bilder reden den Erzählern dazwischen. Endgültig zerbricht der Film jedoch an der Musik. Der Hollywood-Komponist Hans Zimmer produzierte schnulzige Streichersätze fürs Set - ein buchstäblicher Mangel an Taktgefühl.

»Wie sollte man die Worte der Überlebenden und die grausamen Bilder mit Musik unterlegen?« fragt Moll. Claude Lanzmann, Regisseur von »Shoah«, der wohl bedrückendsten Dokumentation zum Thema, hat die Antwort gegeben: gar nicht.

Wie konnte Moll seinen eigenen Film und das dort verhandelte Geschehen selbst so wenig verstehen? »Es war Stevens (Spielberg; J.K.) Wunsch, dass die Überlebenden selber sprechen, weil die Zuschauer dadurch besser angesprochen werden.«

Es geht also weniger um die Personen selbst, als um eine allgemein verständliche Botschaft. So sieht es auch Produzent Ken Lipper: »Ein Film wie dieser erinnert daran, dass es so etwas gibt wie das absolut Böse. Die Botschaft ist, diese Tatsache zu akzeptieren und sofort zurückzuschlagen bei Anzeichen menschlicher Erniedrigung - selbst bei der geringsten Intoleranz, durch die wir anderen die Würde nehmen.«

Das ist so beliebig wie fragwürdig, die Berichte der fünf Protagonisten geben es jedenfalls nicht her. »Die letzten Tage« scheitert daran, dass die Singularität des Verbrechens betont, ebenso aber eine praktisch anwendbare Moral für die Gegenwart erbracht werden soll, die ohne Kenntnis der Besonderheiten verwendbar ist.

Daraus folgt ein durchaus ästhetischer Widerspruch, der dem Filmteam nicht einmal als Frage klar war, geschweige denn beantwortet wurde. Er lautet: Das singuläre Verbrechen kann sich nicht wiederholen. Denkbar ist seine Wiederholung und noch Schlimmeres aber trotzdem. Und genau deshalb hat Lanzmann in »Shoah« auf alle dramaturgischen Tricks verzichtet. Denn wie man überhaupt umgeht mit den Erinnerungen der Überlebenden - das stößt auch an die Grenzen des filmischen Erinnerns selbst.

Moll möchte eine Authentizität herstellen, die aus der individuellen Erfahrung stammt, und gleichzeitig darüber hinausgehen: »Fünf Menschen erzählen von ihrem Schicksal, das zu einer Geschichte verschmilzt.« Hier hätte der Widerspruch auffallen müssen - er will etwas ganz anderes als die Protagonisten selbst. Am Ende steht die Hoffnung, dass Geschichten mehr seien als Geschichte, und es soll ja auch im Kino funktionieren. Wenn er aber das gesichtslose Grauen anhand archivierter Bilder ins Spiel bringt, ist es damit vorbei. Moll vertraut seinen Protagonisten eben nicht und stellt den Subtext selbst her. Sein Film steht im Kontext des »Pädagogischen«, und dabei verliert er gerade das, worin seine Stärke hätte bestehen können: die Individualität.

Dies mag ein Dilemma des Massenmediums Kino sein, das aufs Spektakuläre setzt: Es muss sich des größten Verbrechens der Menschheit annehmen, denn die größten Dinge des Lebens sind sein ureigenstes Anliegen. Am Ende der »Letzten Tage« bleibt dem Zuschauer das Gefühl, er habe einem rührseligen Drama beigewohnt.

Das indes ist hier eine ebenso fragwürdige Angelegenheit wie die Idee, die Spielberg und der deutsche Kulturstaatsminister Michael Naumann für das Videoarchiv der Shoah Foundation hatten: es als Teil des Holocaust-Mahnmals in Berlin einzuquartieren. Dies würde aber nicht den umgebrachten Juden gerecht werden, sondern einem symbolischen Schlussakt gleichkommen, der Deutschland von der Verantwortung freispräche und Politik in ein künstlerisches Projekt auflösen würde, nur umgekehrt: Das Denkmal des abstrakten Grauens käme zu seinem konkreten Bild. Das Mahnmal hätte seinen Off-Kommentar bekommen. So wie der Film »Die letzten Tage« nicht auf seinen - wenn auch indirekten - Kommentar verzichten mochte.

»Die letzten Tage«. USA 1998. R: James Moll. Start: 2. März