Es bewegt sich, es lebt!

Von der Höhlenmalerei zur digitalen Animation. Die Berlinale-Retrospektive: »Künstliche Menschen, manische Maschinen, kontrollierte Körper«.

Mit der Kunst begann der Mensch, oder war's umgekehrt? Zuerst war die Höhlenmalerei, dann kam der Betrachter. Dem Urmensch hat es nicht genügt zu sein, er wollte ein Bild von sich. Damit war seine Künstlichkeit erfunden, und sie fand ihre höchste Form ein wenig später in Kino, Fernsehen und auf Video, weshalb man diese Medien seit geraumer Zeit in Raketen schraubt. Aber sind die Gebäude echt, die man im Anflug sieht, und die Leute darin?

Das künstliche Bild und der künstliche Mensch passen gut zusammen, der Filmtopos zum Medium der Künstlichkeit, meint die Berlinale-Direktion und hat für die diesjährige Retrospektive die Thematik »Künstliche Menschen, manische Maschinen, kontrollierte Körper« aufs Programm gesetzt. Anhand einiger Dutzend zum Teil wenig bekannter Filme geht die auswählende Deutsche Kinemathek der Frage nach, warum seit Beginn der Filmgeschichte der künstliche Körper eine so große Rolle spielte - obwohl es doch genug gute Schauspieler gab.

Aber damit fängt es schon an: Ist eine Leinwandfigur nicht per se ein künstlicher Mensch, egal in welcher Rolle? Oder sogar alles, was man sieht, wie der Solipsist in Frederic Browns gleichnamiger Erzählung meint: Als er vor Gott tritt, setzt der sich zur Ruhe, es bleibt nur, selbst Gott zu werden. Da Filmschaffen zumindest beim Regisseur Gottbildung bedeutet, fällt die Auswahl zugegebenermaßen schwer, und es wäre ein Leichtes, zu kritisieren, dass dieser oder jener wichtige Film fehle, jüngstes Beispiel »Fight Club« (USA 1999), wo die Rolle des Schauspielers Brad Pitt sich darauf beschränkt, die Projektion eines Schizophrenen zu sein.

In der Retrospektive konzentriert man sich auf die geläufigeren Schauergestalten der sozialistischen sowie der spät-, anti- und postbürgerlichen Mythologie: Golem (um die zehn Filme), Roboter (»Westworld«, USA 1972), Cyborgs aus Untotem (»Robocop«, 1987/1990/1994), Gentechnik (»Frankensteins Braut«, die in einer Biolösung entsteht, USA 1935), Metallgestelle wie »Terminator« (USA 1984/1991) und Künstliche Intelligenz (»Johnny Mnemnonic«, USA 1995). Und weil das manchmal alles zusammenfällt, wurde die Formel »Das Wunder der zweiten Geburt« als Untertitel gewählt. Es geht keineswegs nur um US-Titel, sondern vor allem um deren Vorläufer, weniger bekannte Filme aus England, Frankreich, Russland, Italien, Japan und Deutschland. »Die Retrospektive versucht, frühe Filmgeschichte mit Beispielen neuer filmischer Technologien zu verknüpfen, der Rückblick verbindet sich mit den Perspektiven der Zukunft«, so Wolfgang Jacobsen, der die Filme zusammengestellt hat.

Programmatisch könnte indes der folgende Satz sein: »It's moving, it's alive« (Es bewegt sich, es lebt), ruft Dr. Frankenstein, als sein zusammengenähter Protagonist durchs erfrischende Gewitter belebt wird. Anderthalb Stunden später sind alle Facetten des Leids ausgeleuchtet, wenn der mad scientist seine Theorie zu Ende gebracht hat.

Damit einher geht die Vorstellung - geradezu die positive Utopie - der Mensch löse sich selbst in seiner Schöpfung auf, und es ist bestimmt kein Zufall, dass dies in einem halben Dutzend neuerer Filme ausgerechnet die Figur des Polizisten betrifft: In der »Robocop»-Reihe, beginnend mit Paul Verhoeven, wo der leblose Körper des Staatsbediensteten durch intelligente Prothesen wiederhergestellt wird und seinen Job doppelt gut verrichtet, bis zum Polizisten in »Terminator II«, der nurmehr aus Flüssigstahl besteht - die Bullen hatte man immer schon im Verdacht. Deren Schöpfer waren freilich von Maschinen entwickelte Maschinen, das ist schon der Liebe Gott hoch drei. Diese Filme sind allerdings nur die postmodernen Spitzen, denn allzu aktuell will das Programm nicht sein - wozu auch sehen, was eben noch im Kino lief? Stattdessen »Amours Mystérieuses« (F 1907), »Alraune« (D 1927) mit Brigitte Helm und Hildegard Knef (1952), Georges Méliès' »Coppélia ou la Poupée Animée« (F 1900), alles über den Homunculus, »Liebe 2002« (DDR 1972), natürlich »Mickey, Mechanical Man« (USA 1933) vom rechtsradikalen Walt Disney bzw. »The Mechanical Man« (GB 1905).

So viele Filme, so viele Materialien der Fertigung: Der Golem war noch aus Lehm, in »Westworld« ist man zusammengeschraubt, der »Pflanzenmann« aus Spinat fehlt leider, die »Fliege« aus Chitin fehlt auch, der Mensch aus angebautem Fleisch (David Cronenbergs »Existenz«) lief letztes Jahr und der eine oder andere aus Kilobytes (Homunculus digitalis: »Gattaca«, USA 1997) ist hier und da zu finden. Da schließt sich der Kreis zum Websurfer, dessen einzige authentische Erfahrung die kaputte Konsole ist, die zu viel Frittenfett abgekriegt hat. Aber man kann ja eine neue kaufen, es ist sowieso zu fragen, ob das nicht schon viel weniger authentisch ist als Lara Croft.

Die künstlichen Menschen zerlegt der Design-Experte Rainer Funke in vier Muster, deren man sich bedienen könne, falls man sich selber nicht mehr gefalle (»Wenn uns der Blick in den Spiegel enttäuscht, fangen wir an, aktiv zu werden«):

1. Traum.
2. Kosmetik: Wir gehen zum Friseur, ins Schönheitsstudio, zum Body-Building, zum Plastischen Chirurgen.
3. Neue Medien: Wir bauen einen neuen Spiegel.
4. Ideologie: Wir überzeugen die anderen, dass man genau das im Spiegel sehen muss, was wir sehen.

Und jetzt kommt die Schlussfolgerung, die einem auf der Zunge zergeht. Funke: »Eventuell ist es dann angesichts des Glücks des Einzelnen sekundär, ob die Geschichten außerhalb ihrer eigenen Kontinuität Weltbezug haben.« Ihre Drogen wollen die Bewohner ihres Egos nicht umsonst genommen haben. So wird es kommen, so war's im Kino immer schon, da waren die Zombies gut aufgehoben. Denn da sind die Träume aus Kosmetik und Ideologie, und warum es die neuen Medien samt ihrer Gen-Mutanten noch nicht zu einer eigenen Soap im Vorabendprogramm gebracht haben, ist unter diesen Voraussetzungen ehrlich gesagt nicht zu begreifen: Nicht mal Bart Simpson hat einen Internetanschluss.

Man sieht, die Berlinale-Retrospektive schließt sich einem wichtigen Thema gegenwärtiger Diskussion an: der Züchtung des perfekten Ebenbildes. Es sieht aus wie Jörg Haider (Kleinbürger-Klon), redet wie Peter Sloterdijk (Bürger-Klon) und schreibt Bücher wie z.B. die taz-Kolumnistin Alexa Hennig von Lange (Neue Mitte-Klon).

Früher war's schöner, mag man bei der Deutschen Kinemathek gedacht haben. Und lässt die Zeiten Revue passieren, als die Büchse der Pandora noch geschlossen war. Ein schönes Programm. Das Kino, das war mal eine fucking Wunschakkumulation, wie der Akademiker sagt. Aus der Höhlen- wurde die Höllenmalerei. Gewarnt waren wir: Wenn der Terminator zum Menschen wird, landet auch dieser große starke Held unversehens im Kochtopf. Als wenn kein Weg dran vorbeiführte.

Haben die weniger Starken mehr Auswahl? »It's moving, it's alive« - Dr. Frankenstein ahnte, was mancher erschreckt z.B. über Nazis am Brandenburger Tor rufen würde, eingedenk der Gewissheit, dass die Zombies einst in die Leinwand stiegen und jetzt wieder von dort herabgestiegen sind. Das Gruseln ist leider kein Film mehr, und damit ist auch die Erlösung in weite Ferne gerückt. Das war die Ahnung: Für Frankensteins Kreaturen gibt es keinen Vorruhestand. Auflösung: Es bleibt offen, wer zuerst da war: der Zombie, die manische, unkontrollierte Maschine oder die Kunst. Dann ab zum Kartenanstehen am Potsdamer Platz, wo die jetzt auch alles neu gemacht haben. Was an sich schon verdächtig genug ist. Die wahren Nostalgiker haben sich jetzt zwei Wochen Urlaub genommen.

Retrospektive der Internationalen Filmfestspiele Berlin, 9. bis 20. Februar, Termine im Programm und unter www.berlinale.de