Der Spagat des Scheichs

Vor den Parlamentswahlen zeigen sich Brüche im iranischen Establishment. Ex-Präsident Rafsandjani steht als Integrationsfigur bereit.

Tod dem Ataollah Mohadjerani!« Die rund 5 000 Bärtigen, die schon seit Tagen durch die heilige Stadt Ghom zogen und lautstark die Hinrichtung des Kultusministers Mohadscherani forderten, weil sie ihn für eine wenige Tage zuvor in der Tageszeitung Azad erschienenen Karikatur verantwortlich machten, konnten am vergangenen Samstag einen kleinen Erfolg verbuchen. Zwar blieb der Kultusminister, der für die Überwachung der Medien zuständig ist, ungeschoren, dafür aber nahm die Polizei den Karikaturisten Nikahang Kausar fest. Er hatte den fundamentalistischen Ayatollah Mohammad Taqi Mesbah-Yazdi als tränenreiches Krokodil dargestellt, das sich von der Presse gejagt sieht, dabei aber einem Journalisten den Hals zuschnürt. Kein Zufall, dass die Demonstranten sich den als liberal geltenden und dem Lager des Präsidenten Mohammad Khatami zugerechneten Mohadjerani als Ziel ausgesucht hatten, denn im Iran ist Wahlkampf, und die Fraktionen der herrschenden Mullahkratie befehden einander gnadenlos.

Zum sechsten Mal stellen sich am 18. Februar die Kandidaten der Wahl zum Majlese Schoraje Eslami (MSE), der Versammlung des Islamischen Rates. Rund 38 Millionen Iraner ab 15 Jahren können sich dann zwischen den zuvor vom Wächterrat geprüften Bewerbern für das iranische Parlament entscheiden.

Von den 6 860 Kandidaten für das MSE sind schon jetzt 758 bei der Vorentscheidung disqualifiziert worden, die von staatlichen Instanzen durchgeführt wurde - dem Innenministerium, dem Justizministerium und einem Wahlüberwachungsgremium des Amtes für Registration. Da die abgelehnten Kandidaten Widerspruch einlegen dürfen, wird der Wächterrat das endgültige Resultat erst in dieser Woche bekannt geben. Dann erst erfahren die Wähler, wen sie wählen dürfen: 290 Sitze sind zu vergeben, 20 mehr als bei den letztenWahlen vor vier Jahren.

Im Unterschied zu 1996 versucht der Wächterrat, sich dieses Mal ein moderateres Image zu geben: Während bei früheren Parlamentswahlen fast nur Bewerber der so genannten Hardliner zugelassen worden waren, werden nun auch die Kandidaten des als Reformer geltenden iranischen Präsidenten Mohammad Khatami geduldet. Von den 290 Kandidaten auf seiner Liste wurden jedoch nur 90 qualifiziert.

Ebrahim Jasdi, dem Vorsitzenden der Nehsate Asadi (Freiheitsbewegung), erging es noch schlimmer: Er und elf weitere Kandidaten wurden von den Wahlen ausgeschlossen, weil sie sich aus taktischen Gründen hinter Khatami gestellt hatten. Die Disqualifizierung war auch innerhalb des Herrschaftsapparates nicht unumstritten: So soll nach einem Bericht der Washington Post der Khatami-nahe Geheimdienstminister Ali Yunesi den Ausschluss der Nehsate Asadi-Kandidaten - und damit auch den Wächterrat - kritisiert haben.

Die Freiheitsbewegung vertritt die Interessen der nationalistisch-islamischen Mittelklassen; schon zu Beginn der Mullah-Herrschaft hatte sie für ein islamistisch-selbstbewusstes Verhältnis zu den USA und zu Westeuropa - ausgenommen Israel - plädiert. Ihr früherer Vorsitzender Mehdi Basargan war nach der Besetzung der US-Botschaft 1979 als Ministerpräsident zurückgetreten. Seitdem gehört die Bewegung nicht mehr zum Kern des Machtzentrums.

Der Wahlkampf hatte schon im August letzten Jahres begonnen, als der MSE entschied, Ex-Präsident Ali Akhbar Haschemi Rafsandjani zu den Wahlen zuzulassen - ohne von seinem Amt als Vorsitzender des Schlichtungsrates, der den Wächterrat berät und bei Differenzen zwischen dem MSE und dem Wächterrat vermitteln soll, zurücktreten zu müssen. Sollte Scheich Rafsandjani Sprecher der Legislative werden, hätte er nach dem religiösen Führer Khamenei die zweitstärkste Machtposition im Land inne.

Rafsandjani hat eine eigenartige Mittlerposition zwischen »rechten« und »linken« Gruppierungen eingenommen. Sowohl »rechte« Hardliner als auch die von dem als liberal geltenden Minister für islamische Führung, Mohajerani, geleitete Kargosaran Sasandeghi - Beamten des Aufbaus - führen Rafsandjani auf ihren Listen.

Rafsandjanis Spagat bereitet vor allem den Anhängern von Präsident Mohammad Khatami Probleme - und könnte zur Spaltung seiner Bewegung Jebheje Khordad führen. Die Mai-Front - benannt nach dem Monat im Jahr 1997, an dem Khatami die Wahlen gewann - hatte sich bei den letzten Präsidentschaftswahlen nur lose organisiert, umfasst aber heute mindestens 18 Organisationen: darunter die verbotene säkulare nationalistische Partei des ermordeten Politikers Dariusch Foruhar, die islamistisch-nationalistischen Nehsate Asadi, die so genannten linken Islamisten der Madjmae Rohaniune Mobares (MRM), die moderaten Islamisten der KSI und die Familienorganisation Partizipation, die von Khatamis Bruder geführt wird.

Rafsandjani spielte Anfang der neunziger Jahre eine ähnliche Rolle wie Khatami heute. Er setzte die Verschuldungspolitik des Iran bei Weltbank und IWF durch und galt als Liberaler, der auch Khatami an die Macht verhalf. Viele Khatami-Anhänger setzen heute noch auf ihn. Rafsandjani will heute aber nur eine langsame wirtschaftliche Öffnung nach Westen und stellt sich damit gegen Khatami.

Unabhängig von der Frage, welche Fraktion sich bei den Wahlen durchsetzt, ist die Bedeutung des MSE eingeschränkt. Nach Artikel 99 der Verfassung überwacht der Wächterrat die Aufgaben und Arbeiten des MSE. Das Parlament darf kein Gesetz erlassen, das sich gegen die Scharia und die Khomeini-Verfassung richtet. Vertreter des Wächterrates müssen bei den Sitzungen anwesend sein, um Abweichungen vom islamischen Gesetz zu verhindern.

Die Brüche innerhalb des iranischen Establishments verlaufen somit auf verschiedenen Ebenen. Rafsandjanis Gewicht und Akzeptanz bei den verschiedenen islamistischen Gruppen ermöglichen ihm, eine Brücke zwischen den Fraktionen zu schlagen und möglicherweise eine Machtbalance herzustellen.

Die Richtungskämpfe sind vorrangig auf verschiedene politische Einschätzungen der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen zurückzuführen. Sie widerspiegeln aber auch einen Generationenkonflikt. Während die »Wirtschaftsliberalen«, die von jüngeren Islamisten wie Präsident Khatami vertreten werden, eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen ohne kulturelle Öffnung wagen wollen, sind die alten »islamistischen Autarkisten« der Meinung, das Volk solle lieber hungern als sich dem Westen zu öffnen, sonst könnten die Dämme brechen und der »imperialistische Einfluss« das System der islamischen Herrschaft unterminieren.