Reaktionen nach Seattle

Triumph und Notstand

Nach der gelungenen Sabotage der WTO-Tagung herrscht bei den radikalen WTO-Gegnern in den USA Triumphalismus vor. »Victory in Seattle!« titelt beispielsweise das linksradikale US-Magazin CounterPunch fett gedruckt. Und dann geht's los: »Jenseits der wildesten Hoffnungen der Straßenkrieger haben uns die fünf Tage in Seattle einen Sieg nach dem andern gebracht. Die Protestierenden - anfangs von den respektablen Innerhalb-Strategen gemieden und denunziert, von der Presse verhöhnt, von den Cops und der Nationalgarde mit Gas eingedeckt und blutig geschlagen - legten die Eröffnungszeremonie lahm; hinderten Clinton, die WTO-Delegierten auf der Mittwochnacht-Gala zu begrüßen; und brachten die vereinte Presse dazu, statt wie anfangs sittsam die sinnlose Anarchie zu verurteilen, zu bitterer Kritik an der Polizeibrutalität überzugehen; zwangen die WTO, ihre Schlusszeremonien abzusagen und in Auflösung und Konfusion zu vertagen, ohne eine Agenda für die nächste Runde.«

Tatsächlich ist vom Standpunkt der anti-institutionellen Kritik an der WTO alles bestens gelaufen. Darüber hinaus hat sich der Geist der Unterwürfigkeit und Mäßigung, der bei den NGO-Strategen einer WTO-Reform von innen heraus vorherrscht, auf bemerkenswerte Weise blamiert.

Beispielsweise in Gestalt der NGO-Aktivistin Medea Benjamin von Global Exchange. Bereits am Dienstag organisierte Benjamin in der Innenstadt von Seattle eine Menschenkette der besonderen Art: Um einen Nike-Laden, den sie vor den wohlverdienten Attacken der Straßenkrieger schützen wollte. Und am Mittwoch, so berichtet ein Augenzeuge, zogen Benjamin und ihre Kader los, um die Glasscherben aufzufegen und Graffiti wegzuschrubben - während die Horden der Robocops den Ausnahmezustand mit Gas und Plastikgeschossen garnierten.

In den Kreisen der NGO-Reformer, die den Welthandel in Kooperation mit den staatlichen Warlords »fair, frei und gerecht« organisieren wollen, hat sich eine Art panischer »Anti-Gewalt»-McCarthyismus breit gemacht. »Tatsächlich schien die Mainstream-Linke von den Sachschäden schockierter zu sein als der Bürgermeister von Seattle oder Präsident Clinton«, berichtete ein Radikaler aus Seattle. Die Reaktionen der »Normalos« fallen erfreulicherweise anders aus: »'Seit wir zu Hause sind, werden wir wie Helden behandelt', wunderte sich einer aus unserer Gruppe.« Das erzählt ein Gewerkschaftsaktivist.

Jenseits der mystifizierten Gewalt-Diskussionen ist allerdings festzuhalten, dass das verdiente schmähliche Ende der WTO-Tagung keineswegs allein den gelungenen Widerstandsaktionen zu verdanken ist. »Besser keine Ergebnisse als schlechte« - so fällt das Resumé der staatlichen Seite in den kapitalistischen Kernländern aus.

Und das ist kein Wunder. Jeder »nationale Wettbewerbsstaat« versucht, sich Exportmärkte zu öffnen und die eigenen Konzerne vor unliebsamen Rivalen zu schützen. Und diese mörderische Konkurrenz bei enger werdenden Exportmärkten nimmt immer öfter die Form eines - offenen oder verdeckten - Handelskrieges an.

So ist das Scheitern der WTO-Konferenz auch Ausdruck dessen, dass die entgegengesetzten Interessen der mächtigsten kapitalistischen Staaten nicht unter einen Hut zu bringen sind.

Im klaren Bewusstsein darüber versuchen die jeweiligen Staatschefs, im nationalen Rahmen die Kritik an den Verhältnissen zu entschärfen - mittels Einbindung von NGOs und Gewerkschaftsbürokratie in das nationale Akkumulationsregime. Und so sollte sich niemand wundern, wenn sich bei der nächsten WTO-Konferenz die deutschen oder amerikanischen Verhandlungsleiter im Sea-Turtle-Kostüm präsentieren, während draußen der Notstand exekutiert wird.