Schafft ein, zwei, viele Bin Ladens

Während Libyens Revolutionsführer Gaddafi zum Kampf gegen die USA ruft, setzen ihm im eigenen Land die Islamisten zu.

Wie tief muss der Hass sitzen, wenn man seinem Gegner "Millionen Ussama Bin Ladens" an den Hals wünscht? - Libyens Staats- und Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi hat, was die USA angeht, offensichtlich nichts vergeben.

In einem Interview mit dem arabischen Fernsehsender MBC brachte er jüngst den obersten Gotteskrieger Bin Laden ins Spiel, um einen Appell gegen den Einfluss der USA in der arabischen Welt zu bekräftigen: Imperialistische Kräfte seien wieder überall im Nahen Osten am Werk, man müsse endlich zu den Waffen greifen, um die USA militärisch zu bezwingen. Mit der Erneuerung seiner seit Jahren vorgebrachten Hasstiraden reagiert Gaddafi auf die anhaltende Weigerung der US-Regierung, die Wirtschaftssanktionen gegen den nordafrikanischen Staat aufzuheben und Libyen diplomatisch anzuerkennen.

Im April hatte sich die politische Führung in Tripolis bereit erklärt, zwei libysche Agenten, denen ein Bombenanschlag auf eine Pan-Am-Maschine im Dezember 1988 über der schottischen Ortschaft Lockerbie zur Last gelegt wird, an ein schottisches Gericht in den Niederlanden zu überstellen. Daraufhin setzte der UN-Sicherheitsrat das Luftembargo aus, mit dem Versprechen, die Sanktionen binnen 90 Tagen endgültig aufzuheben. Bis heute aber ist eine entsprechende Resolution im UN-Sicherheitsrat wegen des US-Widerstandes nicht zu Stande gekommen.

Anfang Oktober warf der libysche UN-Gesandte Abuzed Dorda den USA vor, die Beendigung des nunmehr siebenjährigen Embargos bewusst zu blockieren. Bisher sei kein Beweis für eine Beteiligung Libyens am Anschlag auf den Pan-Am-Jumbo erbracht worden. Der Vorwurf, Libyen sei nach wie vor Pate des internationalen Terrorismus, sei völlig haltlos, so Dorda. Auch in den USA scheint man von dem Terrorvorwurf allmählich Abstand zu nehmen. In einem kürzlich erschienenen Bericht des State Departments heißt es, Gaddafi sei bereits seit geraumer Zeit nicht mehr als Drahtzieher des internationalen Terrorismus in Erscheinung getreten.

Seit der Aussetzung des Embargos wächst der politische Druck gegen die Boykott-Haltung der USA im Sicherheitsrat. Im September lockerte die Europäische Union die Einreise-Restriktionen für libysche Diplomaten. Nach 15 Jahren nahm Großbritannien Anfang Juli erstmals wieder diplomatische Beziehungen mit dem Maghreb-Staat auf, nachdem die libysche Führung die "allgemeine Verantwortung" für den Mord an der Polizistin Yvonne Fletcher vor der libyschen Botschaft in London 1984 übernommen hatte und Kompensationszahlungen in Aussicht stellte. Ein britischer Botschafter soll noch im Dezember nach Tripolis entsandt werden.

Widerstand gegen die Sanktionspolitik der USA regt sich auch bei US-Unternehmen, haben sie seit der Aussetzung des Embargos im Vergleich zur europäischen Konkurrenz doch das Nachsehen. Vor allem italienische, deutsche und britische Firmen versuchen, auf dem lukrativen libyschen Erdölmarkt ins Geschäft zu kommen. Allen voran das italienische Öl- und Gasunternehmen ENI. Fünfeinhalb Milliarden US-Dollar will der Konzern investieren, um zusammen mit der staatlichen libyschen Erdölgesellschaft Öl- und Gasförderanlagen sowie eine 600 Kilometer lange Unterwasser-Gaspipeline von der libyschen Küste nach Sizilien zu bauen.

Auch in der Luftfahrtindustrie entgeht den US-Firmen ein profitables Geschäft: Im Oktober vergab die libysche Führung einen Kaufauftrag von 24 Fliegern an den europäischen Konkurrenten Airbus, der US-Hersteller Boeing reagierte sichtlich verärgert.

Seit Monaten buhlt Gaddafi um das Kapital internationaler Ölunternehmen, das der libysche Rentier-Staat dringend benötigt: Seit der Verschärfung des Luftembargos im November 1993 kamen kaum noch Ersatzteile für die Erdölwirtschaft ins Land. Zahlreiche Bohrtrupps mussten ihre Arbeit einstellen, viele Förderanlagen und Raffinerien sind verfallen. Die Staatseinnahmen aus dem Erdölgeschäft sanken 1998 im Vergleich zum Vorjahr von neun auf sechs Milliarden US-Dollar. Auf 40 Milliarden US-Dollar schätzt der Spiegel den wirtschaftlichen Schaden für das Land durch die UN-Sanktionen.

Diese Misere bekommt zunehmend die Zivilbevölkerung zu spüren, bislang üppig bemessene Sozialleistungen und Lebensmittelsubventionen werden gekürzt. Von den Unzulänglichkeiten der Kommandowirtschaft und der steigenden Unzufriedenheit der jüngeren Generation mit der Bildungs- und Beschäftigungspolitik ihres Revolutionsführers profitieren zur Zeit vor allem Libyens Islamisten.

Bis heute weigert sich Gaddafi, die Existenz der von ihm als "streunende Hunde" bezeichneten Islamisten zuzugeben. Den Vorwurf internationaler Menschenrechtsorganisationen, in Libyen seien über tausend Mitglieder verbotener islamistischer Organisationen inhaftiert, weist er von sich: Anfang Oktober ließ er über die staatliche Nachrichtenagentur Jana verbreiten, dass es in Libyen keine politischen Gefangenen gäbe - mit Ausnahme bezahlter US-Spione, Drogenhändler und vom CIA in Afghanistan ausgebildeter Libyer.

Doch dass die Islamisten präsent sind, musste der Oberst im Sommer letzten Jahres selbst erfahren: Gaddafi wurde in der Nähe der ostlibyschen Stadt Bengasi, einer Hochburg der muslimischen Extremisten, von militanten Islamisten attackiert. Einer seiner Leibwächter wurde bei dem Überfall getötet, der Revolutionsführer kam mit einer leichten Verletzung davon.

Nach Angaben islamistischer Widerstandsgruppen hat die libysche Führung in den letzten beiden Jahren bereits mehrfach die Luftwaffe gegen die aus dem bergigen Nordosten Libyens, der Cyrenaika, operierenden Extremisten eingesetzt. Doch trotz Repressionen, Schauprozessen, Hinrichtungen und der Ausschaltung des islamistischen Widerstands im Bildungswesen und in den Moscheen des Landes, ist ein Ende des Konflikts nicht in Sicht.

Mit der wirtschaftlichen Öffnung für westliche Investoren läuft Gaddafi nicht nur Gefahr, seinen Ruf als Held des Anti-Imperialismus zu verspielen. Die neue Orientierung könnte auch für weitere Auseinandersetzungen mit den Islamisten sorgen. Diese betrachten den von Gaddafi gebilligten "ökonomischen Kreuzzug des Westens" als Indiz für den prinzipiell unislamischen Charakter des Regimes.