Grobe Zahlen

Die Opfer-Statistik, mit der die Nato den Kosovo-Krieg legitimierte, kann revidiert werden. Ihren Zweck hat sie bereits erfüllt.

Meine Aufgabe", erklärte Nato-Sprecher Jamie Shea während des Kosovo-Krieges, "ist es, dass die Medien korrekt über uns und unsere Ziele und Absichten berichten. Das müssen wir sicherstellen und die Belgrader Propaganda korrigieren."

Um eine korrekte Berichterstattung zu erreichen, ließ es sich so mancher Politiker nicht nehmen, selbst einmal die "Moralkeule" (Martin Walser) zu schwingen: Außenminister Joseph Fischer verkündete auf einer Pressekonferenz, die serbische Sonderpolizei sei "gewissermaßen die SS", Verteidigungsminister Rudolf Scharping sprach von "Selektion" und "Konzentrationslagern", und auch der britische Außenminister Robin Cook verglich die Massaker an den Albanern mit dem Holocaust, um den unter Bruch des Völkerrechts geführten Krieg der Nato gegen Jugoslawien zu legitimieren.

Die korrekte Berichterstattung war garantiert: "Sie treiben sie ins KZ", titelte die Berliner Boulevardzeitung B.Z. kurz nach Ausbruch des Kosovo-Krieges und legte zum Beweis das Foto von einem albanischen Flüchtlingskonvoi bei. Um den Vergleich mit dem industriellen Massenmord an sechs Millionen Juden plausibel erscheinen zu lassen, mussten Zahlen her. Es gab sie reichlich. Das britische Außenministerium berichtete von 10 000 toten Zivilisten. Von 100 000 Opfern der serbischen Militärs sprachen westliche Stellen auf dem Höhepunkt des Krieges.

Jetzt aber scheinen sich die Angaben über die Zahl der von Serben getöteten Albaner als "stark übertrieben" (Berliner Zeitung) herauszustellen. Emilio Perez Pujol hat mit einem spanischen Team von Pathologen im Kosovo nach Massengräbern gesucht. Auf ernüchternde Art und Weise relativieren seine Ergebnisse die "Legitimationsrhetorik der Nato" (Andrei S. Markovits). Die Sunday Times zitiert Pujol am 30. Oktober mit den Worten: "Nach meinen Berechnungen wird die Zahl der Toten im Kosovo am Ende höchstens bei 2 500 liegen." Nach Angaben der Vereinten Nationen seien bisher weniger als 2 000 Kriegstote gezählt worden.

Unter diesen Toten sind nicht nur Zivilisten, sondern auch Angehörige militärischer Einheiten sowie Opfer der Nato-Bombenangriffe, die allein am 14. April 70 albanische Flüchtlinge das Leben gekostet hatten. Das US-Außenministerium nennt noch geringere Zahlen: Bisher seien 1 400 Leichen geborgen worden. Allerdings habe man erst 20 Prozent jener 500 Orte untersucht, an denen möglicherweise Leichen vergraben seien.

Diesen Fakten zum Trotz war es der Nato gelungen, die vorgebliche Einmaligkeit der "Ausrottung" im Kosovo in das öffentliche Bewusstsein zu peitschen.Dass im August 1995 innerhalb von drei Tagen 250 000 Serben vertrieben und über 1 000 massakriert wurden, ohne dass diese Zahlen Nato-Menschenrechtler und Öffentlichkeit im Geringsten beunruhigt hätte, erscheint heute, Monate nach Einstellung der Kampfhandlungen im Kosovo, ohne Bedeutung.

Entscheidend ist anderes: "Public opinion wins war", verkündete General Dwight David Eisenhower 1940 vor einer Verlegerversammlung in den USA. Wie leicht sich die gesicherten Erkenntnisse der Kriegspropaganda in Luft auflösen, zeigt auch das Beispiel der Trepca-Minen. 700 Leichen getöteter Albaner sollten dort versteckt sein. Gefunden wurde, das berichteten die Ermittler des UN-Kriegsverbrechertribunals, keine einzige. Für den britischen Außenminister immerhin soll die Politik der Opferstatistik jetzt ein parlamentarisches Nachspiel haben: Das parteiübergreifende Balkan-Komitee des britischen Parlaments hat angekündigt, Cooks Ministerium zur Rede zu stellen.

Wenn die Fakten indes nicht mehr zur Meinung passen, muss sich die Meinung noch lange nicht an den Fakten orientieren. Das Massaker von Racak, das zum Auslöser des Krieges wurde, blieb im öffentlichen Bewusstsein ein Massaker, auch nachdem die finnische Untersuchungskommission um die Pathologin Helena Ranta sich geweigert hatte, in den veröffentlichten Auszügen ihres Untersuchungsberichtes von einem "Massaker" zu sprechen. Wie sehr man mitunter selbst bei veränderter Nachrichtenlage Recht behalten kann, bewies die Londoner Times, deren Kommentator auch nach der Veröffentlichung der neuen Untersuchungsberichte zum Kosovo-Krieg sicher war, dass, wo kein Holocaust war, immerhin noch einer hätte werden können: "Dieses weniger blutbefleckte Bild diskreditiert ohne Zweifel diejenigen, die vorschnell übertriebene Anklagen eines 'Völkermordes' erhoben haben. Es entkräftet jedoch nicht die Gründe der Nato für ihren Kampf. Eine Intervention war notwendig, um die serbischen Streitkräfte davon abzuhalten, Massenmorde zu begehen. Ziviler Druck hatte auf Herrn Milosevic keine Wirkung gezeigt. Serbische Streitkräfte deportierten die albanische Bevölkerung aus der Provinz. Die tatsächliche Zahl der Zivilisten, die getötet wurden, um den Rest zur Flucht zu zwingen, ist irrelevant. Die Verhinderung eines Massenmordes und ethnischer Säuberungen, in welchem Umfang auch immer, bleibt ein Kriegsziel, auf das die Nato stolz sein kann."