In die zweite Reihe

Lettland hat gute Chancen, bald in die EU zu kommen - vorausgesetzt, das Land ändert seine Minderheitenpolitik.

Auf den Straßenschildern in der lettischen Hauptstadt Riga stehen die Straßennamen immer gleich zweimal: auf Lettisch und auf Russisch. Doch immer häufiger sind die russischen Namen überklebt, so dass nur noch der lettische Straßenname erkennbar ist. Die Letten wollen nicht länger an die Zeit der Sowjet-Okkupation erinnert werden. Der Blick ist nach Westen gewendet. Wie in den anderen baltischen Ländern dreht sich alles darum, so schnell wie möglich "europafit" zu werden.

Und die Chancen auf eine EU-Mitgliedschaft stehen gar nicht so schlecht. Erst vor drei Wochen erklärte die Europäische Kommission auf ihrem Gipfel im finnischen Tampere, Lettland könne schon im Jahr 2000 in den Bewerberstatus für eine Mitgliedschaft in der EU übergehen. Sollte das baltische Land die Aufnahmekriterien zufriedenstellend erfüllen, könnte Lettland gemeinsam mit Bulgarien, Litauen, Malta, Rumänien und der Slowakei in die zweite Reihe der Beitrittskandidaten aufrücken. Die Aufnahmeverhandlungen mit diesen Ländern sollen im nächsten Jahr beginnen. Schließlich wolle man seit dem Kosovo-Krieg bei der Aufnahme der Interessenten keine Zeit mehr verlieren. Denn "speed and quality" sei nun die Strategie der EU, so Günter Verheugen, der als EU-Kommissar für die Ost-Erweiterung zuständig ist.

Voraussetzung ist, dass Lettland noch bis Ende 1999 Reformen einleitet: Dazu gehört ein schärferes Vorgehen gegen die Korruption im Staat. Außerdem soll binnen eines Jahres die Todesstrafe abgeschafft werden, von der noch im letzten Jahr vier Menschen bedroht waren. Gegen einen von ihnen wurde das Urteil vollstreckt.

Eine weitere Forderung der EU richtet sich gegen die weit verbreitete Diskriminierung der russischen Minderheit in Lettland. Bei der russischen Minderheit handelt es sich immerhin um 39 Prozent der Bevölkerung, denen nur 51 Prozent Letten gegenüberstehen. Zwar lebt die Mehrheit der Russen in Riga und in Daugavpils, einer Stadt im Süden Lettlands. Dennoch sind starke Ressentiments gegen sie im ganzen Land zu spüren. Die Ablehnung von allem, was als russisch erachtet wird, ist auch Folge der jahrzehntelangen sowjetischen Okkupation.

Lettland wurde nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 von der Sowjetunion annektiert; während der anschließenden Nazi-Besatzung kämpften rund 140 000 Letten auf Seiten der Wehrmacht und in eigenen SS-Verbänden gegen die Rote Armee. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Lettland als Sozialistische Republik in die SU eingegliedert. Rund 100 000 Letten wurden nach Mittelasien und Sibirien verschleppt oder umgebracht. Zugleich wurden ungefähr genauso viele Russen nach Lettland umgesiedelt. Aber von einer tatsächlichen Einbürgerung kann keine Rede sein. Immer noch leben Russen und Letten in Lettland nebeneinander her. Ihre Kinder gehen größtenteils auf verschiedene Schulen. Und niemand will die jeweils andere Sprache sprechen.

Dabei könnte gerade das Bildungssystem dazu beitragen, die Gegensätze zwischen Russen und Letten abzumildern. Einige Ansätze gibt es schon. So wurde das gesamte Schulwesen nach der Unabhängigkeitserklärung 1989 reformiert und der Unterricht freizügiger gestaltet. Früher mussten z.B. die Erstklässler in den Pausen in Zweier-Reihen im Kreis gehen. Aber nicht zu schnell, sonst gab es Ärger mit der Aufsicht. Für die SchülerInnen ist es oft seltsam, heute immer noch von den gleichen Lehrern unterrichtet zu werden.

Die konservative Regierung zeigt bisher kaum Bereitschaft, den Sprachenstreit zu entschärfen. Im Gegenteil. Erst im Juli hatte das gerade neu gewählte Parlament ein Sprachgesetz formuliert. Demnach müssen alle öffentlichen Schriften bis hin zum geschäftlichen Briefverkehr in lettischer Sprache verfasst seien. Ähnliches soll für Werbung und Plakate gelten. Die parteilose Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga, die kanadischer Herkunft ist, hatte daraufhin das Gesetz, das den Erhalt der lettischen Sprache sichern sollte, zur Überarbeitung ans Parlament zurückgegeben.

Überraschenderweise akzeptierte das Parlament, die Saeima, ohne weiteres die Zurückweisung. Die EU-Kommission hatte zuvor erklärt, dass durch das Gesetz Lettlands Aufnahme zu den Beitrittsverhandlungen gefährdet sei - der Europäische Rat schreibt zwingend den Schutz von Minderheiten in den Beitrittsländern vor. In Lettland werden die Russen in der Öffentlichkeit jedoch immer noch als Bedrohung wahrgenommen. Russen erhalten beispielsweise das Wahlrecht nur, wenn sie die lettische Staatsbürgerschaft annehmen. Dazu müssen sie zuerst ihre eigene Staatsbürgerschaft aufgeben.

Einen offenen Konflikt mit der EU will in Lettland allerdings niemand, der Beitritt ist für das Land schon aus ökonomischen Gründen lebenswichtig. Zwar wird die wirtschaftliche Situation des Landes im Oktober-Bericht der Europäischen Kommission insgesamt als stabil und gut funktionierend eingestuft. Erhebliche Probleme bereitet aber nach wie vor die marode Landwirtschaft. Denn während sich die Hauptstadt Riga weitgehend dem westeuropäischen Niveau angeglichen hat und es dort vor Touristen wimmelt, herrschen auf dem Land noch vorzeitliche Verhältnisse. Die vereinzelten Bauernhöfe sind brüchig bis zerfallen. Nur hin und wieder begegnet man dort auf den Straßen mal einem Auto oder einem Lkw. Auf den kleinen Feldern arbeitet die ganze Familie, nur selten sind auch Maschinen am Werk.

Um die extremen Gegensätze zwischen Stadt und Land auszugleichen und die Landwirtschaft zu modernisieren, ist das Land auf die Hilfe der EU angewiesen. Zudem gehen nach dem Zusammenbruch der russischen Wirtschaft fast die gesamten Exporte in den Westen. Umgekehrt investieren die EU-Mitgliedsländer, allen voran Deutschland, zunehmend in der Baltikum-Republik. Damit dies so bleibt, wird sich die Regierung in Riga vermutlich gegenüber der russischen Minderheit kompromissbereit zeigen. Für den Beitritt in die Union ist man schließlich bereit, fast jeden Preis zu zahlen.