Kult und Kloppen

Vor dem Start ist in der zweiten Fußball-Bundesliga fast jeder Geheimfavorit

Vor ziemlich genau 60 Jahren, im November 1919, trat Alemannia Aachens Fußballmannschaft beim benachbarten Dürener FC an. Das Ergebnis des Spiels hielt ein Vereinsmitglied in einer Notiz fest: "Im Verlauf des Spiels wurde unserem Mittelstürmer Finke das Wadenbein durchgetreten, unser Linksaußen Baurmann erlitt einen Beinbruch am Knöchel, unser linker Läufer Korffmacher erhielt einen Tritt ins Gesicht, und unser Verteidiger Schaps wurde dermaßen gegen den Fuß getreten, daß er längere Zeit lahmte."

Ein Protokoll, das auch die aktuellen Zustände in der zweiten Bundesliga beschreiben könnte: Fußballsachverständige haben dieser Spielklasse während der letzten Jahre wiederholt bescheinigt, daß ihre Mannschaften fast durchweg von "Kloppern" bevölkert werden.

Der Trainer des Bundesliga-Absteigers Borussia Mönchengladbach, Rainer Bonhof, hat daraus Schlüsse gezogen, die nicht unbedingt eine Anhebung des Niveaus verheißen: "Wenn wir versuchen, nur über die spielerische Schiene zum Erfolg zu kommen, dann würden wir eine Bauchlandung erleben. Gerade in der zweiten Liga wird sehr viel Wert auf Kampf- und Laufbereitschaft gelegt." Dementsprechend hat der ehemalige DFB-Angestellte einige Spieler verpflichtet, die das Etikett "Kämpfertyp" wohl kaum als Beleidigung interpretieren würden.

Die Fachpresse ist dennoch optimistisch, im Kicker-Sonderheft "Bundesliga 1999/2000" wird die "Zweite Liga als neue Kultliga" vorgestellt. Der Grund: Mit Fürth, Mainz, Cottbus und Chemnitz treten nur noch vier Vereine an, die nie in der höchsten Klasse gespielt haben. Bei den Aufsteigern Offenbach, Mannheim und Aachen handelt es sich um "Traditionsvereine" mit besserer Vergangenheit. Deshalb, so der Kicker, bedarf "es keines Insider-Wissens", um der zweiten Liga "das außergewöhnlichste, das interessanteste Jahr in ihrem nunmehr 28jährigen Bestehen vorauszusagen". Den Zuschauerrekord aus der Spielzeit 1996/97 - damals kamen im Schnitt 8 093 Besucher zu den Spielen - werde sie problemlos "einstellen und überflügeln".

Wie immer starten die Vereine mit unterschiedlichen Zielen in die neue Spielzeit. Ob die wahren Ziele mit den verlautbarten übereinstimmen, kann man am Finanz-Etat ablesen. Der Bundesliga-Absteiger 1. FC Nürnberg zum Beispiel wird in diser Saison die Zweitliga-Rekordsumme von 35,5 Millionen Mark ausgeben, eine Summe, bei der der Trainer (Friedel Rausch) nichts anderes sagen darf als: "Wir wollen aufsteigen, so lautet unser Ziel."

Tennis Borussia Berlin kaufte neue Spieler im Gesamtwert von 11,5 Millionen Mark und hat damit ebenfalls das Ziel, der Zweiten Liga zu entkommen. Ob dies allerdings mit einem Trainer (Winfried Schäfer) gelingt, der ein strammer Freund deutscher Tugenden (Einer für alle! Disziplin!) ist, in dessen Kader aber nur zehn von 27 Spielern "deutschstämmig" sind, ist anzuzweifeln.

Dann gibt es jene Vereine, die dem Wahn anhängen, der ersten Liga fehle ohne die eigene Mannschaft die entscheidende Zierde, die aber gleichzeitig seriös tun, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Hier ist zuvorderst der 1. FC Köln zu nennen. Im letzten Jahr mit einem Riesenetat, zweitklassigen Spielern und einer Nullnummer als Trainer (Bernd Schuster) an der öffentlich angestrebten sofortigen Rückkehr in die höchste Klasse gescheitert, soll der neue Trainer Ewald Lienen nun "in einer völlig neuen Atmosphäre der Ernsthaftigkeit am großen Ziel arbeiten" (Kicker).

Immerhin sind die Defizite erkannt: "Die denken hier doch alle, sie wären noch Deutscher Meister", sagte Lienen beim Amtsantritt, und auch Sportdirektor Hannes Linßen hat bemerkt, daß im Club etwas schiefläuft: "Bislang sind wir dem Phänomen unterlegen, daß in Köln noch kein Spieler besser, aber fast jeder schlechter geworden ist."

Der fixen Idee, es seien anstelle fußballspielender Kollektive "Vereine", die in die erste Bundesliga gehören, hängt der Trainer des Karlsruher SC (Rainer Ulrich) an, der deshalb und trotz eines von 30 auf 14 Millionen Mark verminderten Finanzrahmens sagt: "Der KSC ist ein Verein, der in die Bundesliga gehört, darauf arbeiten wir hin."

Wer in die Bundesliga gehört, ist die eine Sache, wer den Aufstieg schafft, eine andere. Irgendwie jedenfalls schafft es - anders als in der ersten Liga - beinahe jeder Club, von irgendeinem Experten als "Geheimfavorit" eingestuft zu werden. Der Kicker rechnet mit den Absteigern Gladbach, Bochum, Nürnberg, ferner mit Tennis Borussia sowie Karlsruhe, dem 1. FC Köln und Hannover. Bochums Trainer Ernst Middendorp hat weitere Verdächtige im Visier: "Insgeheim werden auch in einer Stadt wie Offenbach Ziele gesetzt, so abzuschneiden wie Ulm. Auch Fortuna Köln und Mainz sprechen seit Jahren vom Aufstieg."

Nichts zu bemerken ist von solchen Ambitionen in Aachen. Gerade mal zehn Autominuten von der niederländischen Kleinstadt Kerkrade entfernt, deren Fußballclub durch optimale Ausnutzung begrenzter Ressourcen in den vergangenen Jahren mehrmals und auch aktuell wieder in den Uefa-Cup gelangte, ist man dort bescheiden geworden. In acht Drittliga-Jahren hatte man in Aachen jeweils pünktlich zum Saisonstart die Losung vom Aufstieg ausgegeben, gereicht hat es meist nur zu mittleren Tabellenplätzen. Im Frühjahr 1998 stand der Verein vor der Pleite, als positive Mitteilung verkündete der Schatzmeister auf der Jahreshauptversammlung: "Es gibt uns noch!"

Zu Beginn der vergangenen Spielzeit startete die Mannschaft wie gewohnt ins Mittelfeld, arbeitete sich dann nach oben, stürzte wieder ab - und legte zum Saisonende eine Serie von elf Siegen in Folge hin. Die beiden letzten erlebte der Trainer nicht mehr. Bei einem Waldlauf erlitt Werner Fuchs einen tödlichen Herzanfall. Der Club will das von Fuchs verfolgte Programm beibehalten: Verzicht auf abgehalfterte Bundesliagprofis, konsequente Nachwuchsarbeit, spielen statt kloppen.

Dies dürfte schwierig werden: Zwar überzeugte die Mannschaft zuletzt und im Gegensatz zu früheren Jahren mehrmals mit fußballästhetisch hochwertigen Ansätzen, doch besteht Anlaß zu der Befürchtung, daß diese im Existenzkampf der zweiten Liga rasch dem Vergessen anheimfallen. Der schmale - aber gesicherte - Etat von 10,5 Millionen Mark ließ aufsehenerregende Aktivitäten auf dem Transfermarkt nicht zu, im ersten Pflichtspiel der neuen Spielzeit verlor die Aachener No-name-Truppe im DFB-Pokal mit 1:0 beim Ost-Regionalligisten VFC Plauen.

Bei diesen Vorzeichen ist es kein Understatement, sondern Realismus, daß Trainer Eugen Hach, zuvor Assistenz-Coach bei Mitaufsteiger Mannheim, den Klassenerhalt als einziges Ziel angibt. Für die Fans des seit November 1998 von der Münchener Kinowelt Medien AG gesponserten Clubs steht etwas anderes im Vordergrund: endlich wieder auf Augenhöhe mit den Nachbarclubs aus Mönchengladbach und Köln zu sein.

Vor allem dem 1. FC Köln sind die Aachener in Haß verbunden. Die aktuelle Vereinschronik auf der Internet-Homepage rechnet noch heute detailliert vor, wie die einst mächtigen Vereinsbosse des FC bei Gründung der Bundesliga eine Mitgliedschaft der Aachener verhinderte: "Auf jeden Fall wollte der 1. FC Köln der einzige Mittelrheinverein in der Bundesliga sein." Showdown ist am 12. Dezember in Müngersdorf - ein Unentschieden würde in Aachen als gelungene Rache durchgehen.