Die Frankfurter und das Allgemeine

Le moment décisif: Barbara Klemm, Fotografin für die FAZ, zeigt ihre Bilder aus Deutschland im Berliner Kronprinzenpalais

Theodor W. Adorno ist sauer. "Heftig und widerlich" nennt er die "Störungen". Geschimpft kriegen hier seine Studentinnen und Studenten, die ihn zu einer unangemeldeten Diskussion aufforderten und anschließend auch noch zwei luftig angezogene Protest-Mädchen aufs Podium schickten, den ehrbaren Herren mit Blumensträußen "zu kitzeln" (Dieter Vogt in der FAZ).

Adorno holt die Bullen. Und das im Institut für Sozialforschung, das doch als Hort der 68er-Revolte gilt. Oder mehr als Hort ihrer Theorie, wie dieses Ereignis wohl belegt. Als die Polizei aufkreuzt, ist Barbara Klemm da, und die hat sowieso immer einen Fotoapparat in der Tasche. So arbeitet eine Redaktionsfotografin der FAZ - wer hätte das gedacht: Die Zeitung beschäftigt deren fünf in Festanstellung, wo sich doch der Gelegenheitsleser nicht erinnern kann, dort überhaupt mal ein Foto entdeckt zu haben. Dabei sind ihre Arbeiten regelmäßig in der Tiefdruck-Beilage "Bildern und Zeiten" erschienen.

Weil die Künstlerin in Zeitungsdiensten dieses Jahr ihren 60. Geburtstag begeht, weil es in der aufgerüsteten Ereigniswüste Berlin immer was zu feiern geben soll, man muß nur wollen, weil irgendwas gerade 40-, 25- oder in diesem Fall 30-jähriges Jubiläum hat, wühlte Christoph Stölzl, der Schlingensief des nationalen Zeughauses und Leiter des Deutschen Historischen Museums (DHM), mit Klemm solange in ihrem reichhaltigen Archiv, bis ihr komplexes Lebenswerk aus in- und ausländischen Fotoreportagen auf ein konsumierbares und DHM-kompatibles Maß geschrumpft war.

"Unsere Jahre - Bilder aus Deutschland 1968 bis 1998" heißt die Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais an der Deutschlandstraße Unter den Linden. Dorthin ist das DHM für seine kleineren Aktivitäten ausgewichen, solange die gegenüberliegende Adresse, das Zeughaus, wegen Umbau geschlossen ist. Die Ausstellung könnte auch "Danke, Frau Klemm" heißen, denn mit ihrem Genie, immer zur rechten Zeit das richtige Bild zu machen, verpaßt sie dem genannten Zeitabschnitt eine Kontinuität und durch die gewisse Abstraktheit der Schwarzweißfotografie eine Erzählung in Schemen.

1970 kam sie zur FAZ und agierte fortan wie Woody Allens Held Zelig, der immer und überall in der Weltgeschichte dabei ist, nur stand Klemm hinter dem Objektiv. "Laßt das Mädchen doch mitfahren", bat Erich Honecker in seiner Weisheit, als sie sich in einen Politikerpulk vor dem Fahrstuhl gedrängt hatte. Und schon war sie die einzige Westfotografin, die 1972 gelungene Bilder der DDR-Politprominenz von der Leipziger Messe nach Hause brachte. Oder im darauffolgenden Jahr, Leonid Breschnew und Willy Brandt im Bonner Kanzleramt: "Ich hätte gar nicht im Saal sein dürfen", erzählt sie. Sie habe lediglich von Benehmen und Hierarchie keine Ahnung gehabt, sonst hätte sie sich gar nicht dort hineingetraut.

Großzügig gehängt sind die Arbeitsergebnisse mit dieser frischen Grundeinstellung - auf zwei Etagen, deren Wände sonst dezent layoutfrei weiß sind. Die Augen gehen auf Urlaub, vor allem in den Bildern, die einen Großteil der Ausstellung ausmachen: diejenigen von sozialen Gruppen. Die Demos, die FDJ, die Weltjugendfestspiele, die Schulkinder, die Deutschlandbetrunkenen rund um ihre Helden Helmut Kohl, Willy Brandt und Lothar de Maizière.

Zu dem Zeitpunkt, das ahnt man beim Abgleich mit dem Adorno-Bild, müssen aus der 68er-Generation die Alt-68er hervorgegangen sein, analog zum Wort Antje Vollmers, die 68er-Ereignisse seien nur eine Episode in der deutschen Geschichte, 1989 aber sei eine Revolution gewesen: Klemms Bilder scheinen mit den Jahren unschärfer zu werden, die Konturen verwischen; dort die denkwürdige, herausragende Statur des Philosophen, da die Menschenklumpen im Dustern - das Individuum und das Ganze. Und in der Tat wirken die Fotografien von der Mauer wie Bilder einer Nationalrevolte und in der Zusammenstellung nicht zuletzt wie die einer Revolution gegen die Vernunft, die der Herr Professor noch zu verkörpern scheint.

Uns, wir, ich, meins, wir Deutsche, "unsere Jahre" - statt sich lange mit solchen Titeln, wie sie die Ausstellung trägt, herumzuschlagen, hat Klemm einfach alles und jeden abgelichtet, die Revolte-Kinder, die Marxisten, Hans Filbinger und Joseph Fischer, die Türken und Metaller, die DDR und ihr Ende, die Frankfurter und das Allgemeine. Die Auswahl im Kronprinzenpalais soll aber den Deutschland-Comic erzählen, das Diffuse schrumpft zur nationalen Kleinigkeit.

Für derlei ist Stölzl immer zu begeistern, der Katalog zur Ausstellung ist ein dicker Brocken und für 42 Mark erhältlich. Zu einem Bild zweier Turnerinnen in der DDR schreibt er: "Die Artistinnen in Rostock von 1974 sind, wenn man will, eine Allegorie der DDR, oder wenn man vorsichtiger sein mag, eine Allegorie des Verhältnisses zwischen Utopie und Alltag im anderen Deutschland: angestrengtes Schauturnen über materiell dürftiger Kulisse." Armut schändet nicht und andersherum sind viele!, möchte man ihm zurufen, aber das war noch nicht alles: Während man in den Wandelhallen nicht von großen Worten belästigt wird, sind im Katalog zu jedem zweiten Bild gedankenreiche Schwadronagen von FAZ-Kommentatoren abgedruckt, wo doch Klemms Bilder, der Name ist Programm, beklemmend beredter sind. Beispiel: bescheidene Straßenszene mit Bauern im Ort Dettingen 1983: "Müßiggang und Gottlosigkeit gehören auch heute in der inzwischen auf 8 000 Einwohner angewachsenen Ortschaft zu den unverzeihlichen Sünden." (Sylvia Strasser). Ist das nicht ein schöner Bildkommentar?

Johannes Gross findet man auch, und zwar neben Helmut Kohl. "Programm und Person des Herausforderers Kohl sind - es muß gesagt sein - epigonal. Aber wenn der schwarze Riese jetzt gegen #Bonn aufbricht, darf man an die Alten erinnern, für die das Wort Epigone nicht allgemein Nachgeborener oder gar Nachahmer bedeutete, sondern jenen Söhnen galt, die vollbrachten, was die Väter versucht hatten; die gegen Theben auszogen - und siegten."

Über den Ex-Nazi Filbinger lernen wir vom Volkspädagogen Friedrich Karl Fromme: "Man kann der Meinung sein, daß der an exponierter Stelle, also da, wo es um Leben und Tod gehen konnte, in das nationalsozialistische System Verstrickte nicht berechtigt ist, Ämter in dieser Republik zu bekleiden." Man kann der Meinung sein, sicher, und das soll's ja schon gegeben haben, also bitte schön, eine Meinung dürfen Sie heute haben, und Barbara Klemm hat auch denen eine Menge Entwickler gewidmet, die das so schamlos ausnutzen, diese Freiheit. Aber: Es muß gesagt sein!

Die Frankfurter Schöpfer des geschwungenen Satzes haben schon eine ganze Menge getan, um den Platz zu belegen, den Klemm für ihre Fotos doch dringend benötigt hätte. Ja, aber ... Natürlich hat unsereins auch nicht die deutsche Sprache erfunden, vom Relaunch ist abzusehen. Im Betrieb einer Zeitung werden die vollständigen Abzüge immer wieder angeschnitten, heißt es in der Ausstellung, sie seien dort eben nur Gebrauchsgut.

Die Frommes und Grossens hätten dieser Illustration wenig bedurft, am wenigstens brauchen die Bilder von Barbara Klemm diese Unterzeilen. Und vielleicht hätte man ihre Arbeiten hin und wieder größer aufziehen und dafür die gottverlassenen und unverzeihlichen Artikel-Ortschaften der Damen und Herren von der Großschriftstellerei einebnen können.

"Unsere Jahre - Bilder aus Deutschland 1968-1998". Fotografien von Barbara Klemm. Berlin, Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3, Täglich außer Mittwoch, 10 bis 18 Uhr. Bis 5. Oktober. Katalog bei Klinkhardt & Biermann