Spion vs. Spion

Der große Lauschangriff in der Türkei nimmt ungeahnte Dimensionen an

Das "Riesenohr" hört alle - darüber lacht seit gut zwei Wochen die halbe Türkei. Zwar haben sich Parteivorsitzende, Oppositionelle und auch Journalisten schon längst an die Überwachung ihrer Telefonleitungen gewöhnt. Neu und amüsant ist jedoch, daß sich die Behörden nun auch mit wachsender Begeisterung gegenseitig bespitzeln. Selbst Premierminister Bülent Ecevit war "bestürzt und tieftraurig", nachdem er erfahren hatte, daß sein Privattelefon von der Polizeizentrale Ankaras abgehört wurde.

Illustre Adressen fanden die von Innenminister Sadettin Tantan eingesetzten Sonderfahnder unter den Abgehörten: so gut wie alle hochkarätigen Politiker einschließlich des Premiers und des Staatspräsidenten sowie der türkische Generalstab und einzelne Polizeipräsidien waren dabei.

Eine große Razzia innerhalb des Polizeiapparates soll die Abhörmanie jetzt beenden und wohl auch die Hand auf abgehörte Informationen legen, die - noch - nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind.

Wie wurde das "Riesenohr" entdeckt, und wer steckt dahinter? Wie es scheint, handelt es sich um Intrigen und Kungeleien um Pöstchen innerhalb des Polizeiapparates. Ausgangspunkt der Untersuchung waren öffentliche Nörgeleien des Chefs der Istanbuler Drogenfahndung, Ferruh Tankus. Den wollte die oberste Polizeibehörde auf den Posten des Polizeichefs von Beyoglu, eines Stadtteils von Istanbul, versetzen.

Tankus allerdings war auf den Posten nicht besonders scharf: Während in der Drogenfahndung die meisten Schmiergelder fließen, ist Beyoglu das Vergnügungsviertel und die Demonstrationsmeile im Stadtzentrum. Dort muß sich die Polizei mit Prostitution, Straßenkindern, Kurden und Menschenrechtsvereinen und lästigen Demonstranten aus allen ideologischen Richtungen herumschlagen.

Und so sann Tankus auf Rache - und plauderte schließlich aus, daß der Sohn des inzwischen von seinem Posten beurlaubten obersten Polizeipräsidenten, Necati Bilican, Kontakte zu Mafiakreisen unterhalte. Der Polizeichef von Ankara, Cevdet Saral - zu dessen Gruppe innerhalb des polizeilichen Intrigensystems Tankus gehörte -, ordnete daraufhin eine Analyse der bei Bilicans Sohn abgehörten Telefongespräche an.

Der Vorwurf bestätigte sich zwar. Nur erwies sich die eingesetzte Abhörpraxis als Bumerang. Denn nun fragte sich die oberste Polizeibehörde, aus welchem Grund diese Telefongespräche bereits im Vorfeld der Untersuchung aufgezeichnet worden waren.

Die Polizeizentrale in Ankara ist vor allem bei Karrieristen sehr beliebt - denn dort werden die Posten in der oberste Führungsetage der Behörde vergeben. Was die Beamten dort allerdings nicht wußten: Seit Anfang des Jahres können alle Computersysteme in den verschiedenen Dienststellen von der obersten Zentrale kontrolliert werden. Nach der Lauschattacke auf Bilicans Sohn erfolgte dementsprechend eine Kontrolle der Abhörpraxis der Polizeibehörde Ankaras. Und die kostete schließlich zehn Polizeichefs, darunter auch Cevdet Saral aus Ankara, das Amt.

Kein Wunder. Abgehört wurden unter anderem Privattelefone und Dienstanschlüsse hoher Bürokraten aus Politik, Sicherheitsapparat und Militär sowie die Anschlüsse von Mediengrößen und Geschäftsleuten - allesamt einflußreiche Persönlichkeiten, die gegebenenfalls, wie das Beispiel Tankus/Bilican zeigt, bei der Inszenierung von Skandalen oder bei der Beseitigung von Rivalen dienlich sein können.

Die Abhörpraxis folgt der alten Regel: Wissen ist Macht. Denn was bringt mehr Punkte - etwa bei der Besetzung eines begehrten Postens -, als einflußreichen Politikern gefällig zu sein? Die jeweiligen Politiker und Regierungschefs fördern diese Praxis, indem sie versuchen, sich loyale Polizeichefs heranzuziehen, die sie mit Sonderinformationen bedienen.

In einem System wie dem türkischen, in dem Sondereinheiten, Kontraguerilla und verschiedene andere Dienste nebeneinander und oft außerhalb der Kontrolle der Politik agieren, neigen alle Institutionen zur Intrige. Besonders deutlich wurde dies bei den Ermittlungen zu dem sogenannten Susurluk-Unfall. In der Nähe des westanatolischen Ortes waren ein Polizeichef, ein Abgeordneter von Tansu Çillers Partei des rechten Weges und ein gesuchter Mafioso bei einem Verkehrsunfall im gleichen Mercedes verunglückt. Die daraufhin eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission traf allerdings auf fast unlösbare Schwierigkeiten. Die befragten Bürokraten und Beamten beschuldigten die jeweils rivalisierende Einheit: der Geheimdienst die Polizei, das Polizeipräsidium Ankara das Polizeipräsidium Istanbul etc.

Die Erinnerung daran ist in der Türkei nicht verblaßt. Und so wurde nun der "Riesenohrenskandal" nicht ohne Schadenfreude über die internen Intrigen von Politik und Sicherheitskräften aufgenommen, zumal sich auch Innenminister Sadettin Tantan dabei blamierte. Der entdeckte in der Abhörpraxis seiner Behörden sogar progessive Elemente, da "in modernen Staaten wie Amerika doch jeder abgehört werde", wie er erklärte.

Er dachte wohl an den Watergate-Skandal, unterschlug allerdings, daß dieser den amtierenden US-Präsidenten damals sein Amt gekostet hat. Das hat kaum ein türkischer Politiker oder Bürokrat zu fürchten. Die ehemalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die mehr als einmal der Unterschlagung und Korruption überführt werden konnte, agiert nach wie vor munter als Vorsitzende der Partei des rechten Weges. Und auch die meisten Polizeichefs, die jetzt zurückgestuft werden, sitzen nach einer angemessenen Zeit vermutlich alle wieder in adäquaten Positionen.

Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel des ehemaligen Polizeichefs von Manisa, Kemal Iskender. Vor drei Jahren noch stand Iskender im Mittelpunkt des bislang größten Folterskandals in der Türkei. Zwölf Kinder und Jugendliche waren in der westanatolischen Stadt Manisa übel mißhandelt worden. Das Revisionsgericht hat vor kurzem die Entscheidung des Gerichts von Manisa, das die angeklagten Polizisten wegen Mangels an Beweisen freigeprochen hatte, wieder aufgeboben. Begründung des Revisionsgerichtes: Folter ist strafbar, und von Beweismängel könne keine Rede sein.

Iskender hatte die Ermittlungen, die vor allem auch durch den ehemaligen sozialdemokratischen Abgeordneten Sabri Ergül vorangetrieben worden waren, nach besten Kräften sabotiert und Ergül mehrfach als Schwachkopf und Psychopathen beschimpft. Nun wechselte Iskender auf die Stelle des wegen des Abhörskandals abgesetzten Polizeichefs von Ankara, Cevdet Saral.

Die bittere Pointe des "Riesenohr-Skandals" lieferte nun Innenminister Tantan, der derzeit einen Gesetzentwurf vorbereiten läßt. Demnach genügt künftig der "reine Verdacht einer illegalen Tätigkeit, in welchem Sinne auch immer", um Telefone und Telekommunikation überwachen zu lassen. Was nichts anderes bedeutet, als die Abhör-Praxis nachträglich zu legalisieren.