Tanz um die Siegessäule

Trotz möglicher Kompromisse bei der Agenda 2000 bleiben die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich offensichtlich

"Die Siegessäule wird unser Zeichen sein." So droht der deutsche Bauernführer Gerd Sonnleitner, der rund 400 Traktoren auf die Straße des 17. Juni in Berlin bringen will. Sein Protest richtet sich gegen die Agenda 2000, die derzeit in Berlin auf der Tagesordnung steht.

Die Symbolik - die Siegessäule ließ Bismarck als steinernen Ausdruck des Triumphes im deutsch-französischen Krieg 1870/71 errichten, in dessen Folge das Deutsche Reich gegründet wurde - könnte eindeutiger nicht sein, geht es doch im Streit um die Agenda 2000 in erster Linie um das immer schlechter werdende deutsch-französische Verhältnis. Und das ist nicht nur von konkreten Verteilungskämpfen im EU-Etat geprägt, sondern auch vom grundsätzlichen Kampf um die Hegemonie in der EU.

Wie's Gescherr, so der Herr. Kaum hat sich Europa-Befürworter Oskar Lafontaine dazu entschlossen, künftig nur noch die Goldsträhnen von Carl-Maurice zu wuscheln, verliert Gerhard Schröder, wie uns die FAZ versichert, die Contenance: "Die Verstimmung zwischen Paris und Bonn trat in aller Deutlichkeit zutage, als Schröder mit ironischem Unterton sagte, Frankreich und Deutschland seien 'niemals auf Konfrontationskurs', worauf Chirac die Augenbrauen hochzog." Mit sichtlichem Erstaunen habe zuvor Chirac auf das forsche Auftreten Schröders reagiert; der deutsche Bundeskanzler habe stets das Wort an sich gerissen und dem Gastgeber kaum Gelegenheit gegeben, Stellung zu beziehen.

Wie tief der Ärger sitzen mußte, zeigte auch Premierminister Lionel Jospin. Er hatte keine Lust, sich Schrödersche Provokationen wie "Ich will nicht französischer Bauernpräsident werden" anzuhören und war zu der gemeinsamen Pressekonferenz - anders als bei anderen deutsch-französischen Gipfeltreffen - nicht erschienen.

Doch zur Sache: Die Agenda 2000 soll neben den Modalitäten der EU-Ost-Erweiterung den Finanzrahmen für die Jahre 2000 bis 2006 - hier geht es um bis zu 1 400 Milliarden Mark - regeln sowie die Struktur- und Agrarpolitik reformieren, das heißt deren Ausgaben zu begrenzen. Mit dem so gesparten Geld - allein der Agraretat macht etwa die Hälfte des EU-Haushalts aus - soll die Ost-Erweiterung der Europäischen Union finanziert werden. Wenn es um so viel Geld geht, ist Streit nicht verwunderlich. "Um es offen zu sagen: Die Divergenzen zwischen uns bestehen fort", so Chirac zu Schröder. Die vorläufige Vereinbarung der EU-Landwirtschaftsminister, die Außenminister Joseph Fischer vor Wochenfrist noch als nicht verhandelbar bezeichnet hatte, sei "weder ausreichend noch zufriedenstellend".

Das Konzept der Landwirtschaftsminister, dem Frankreich nicht zugestimmt hatte, sieht für die sieben Jahre bis 2006 Gesamtausgaben in Höhe von 614 Milliarden Mark vor. Die Ausgaben liegen dabei rund 14 Milliarden über der Vorgabe der europäischen Regierungschefs, die die Ausgaben deckeln wollten. Gespart werden kann aber noch, indem die Direktbeihilfen an die Bauern jedes Jahr behutsam gesenkt werden, die sogenannte Degression, und die Fördermittel für die Entwicklung des ländlichen Raumes umgeschichtet werden.

Dafür hat Deutschland sogar auf das Prinzip der Kofinanzierung verzichtet. Dieses sah vor, daß die Beihilfen für die Bauern - immerhin arbeiten EU-weit derzeit noch acht Millionen Menschen im Agrarsektor - je zur Hälfte von der EU und den nationalen Regierungen finanziert werden. Dafür hätten dann die Zahlungen der einzelnen Staaten an die Brüsseler Kasse gekürzt werden können. Für Deutschland, wo insbesondere Bayern diese Idee forcierte, hätte sich das gelohnt.

Politisch gesehen aber war die Kofinanzierung schlicht eine Provokation. Allen war klar, daß Frankreich nie darauf eingehen würde. Schließlich sei die Kofinanzierung, erläuterte der französische Europaminister Pierre Moscovici dem Spiegel, weniger eine Frage des Geldes als des Prinzips. Eine Renationalisierung der Agrarpolitik komme nicht in Frage. Dabei wird es wohl dank Chirac auch bleiben; in Bonn hat man sich längst darauf eingerichtet, Paris entgegenzukommen. Auch wenn dadurch die Agenda ein wenig teurer wird.

Auch bei einem weiteren Streitpunkt hatte im Vorfeld des Berliner Gipfels die Bundesregierung versucht, den Druck auf einen europäischen Partner zu erhöhen. Der Fall: der sogenannte Sonderrabatt Großbritanniens, mit dem London derzeit rund sechs Milliarden Mark jährlich an EU-Beiträgen spart. Den Rabatt hatte 1984 Margret Thatcher durchgesetzt, da die britischen Bauern bisher am wenigsten von der Brüsseler Subventionspolitik profitieren konnten.

Dennoch wollte die Schröderregierung den Rabatt ersatzlos steichen lassen. Am Wochenende lenkte die deutsche Regierung ein Stück weit ein. In einem Kompromißpapier wurde erstmals vorgeschlagen, den britischen Sonderrabatt beizubehalten. Der Trick: Geänderte Berechnungsgrundlagen sollen diesen Betrag Schritt für Schritt senken. Das lehnt die Londoner Regierung bisher ab. Intern hat die Londoner Regierung allerdings schon angedeutet, die Lasten für die Ost-Erweiterung rabattfrei mitzutragen.

Einigungsmöglichkeiten zeichneten sich in der vergangenen Woche auch bei den Struktur- und Kohäsionsfonds ab, die insbesondere Spanien und Portugal in vollem Umfang erhalten wissen wollten. Im Mittelpunkt der Fondspolitik stehen Regionen, die wegen ihrer ländlichen oder altindustriellen Prägung einen Entwicklungsrückstand gegenüber den fortgeschrittenen Zentren der EU aufweisen.

Dabei soll es nach der Agenda streng marktkonform zugehen. Nicht die Bedürftigkeit, sondern die Leistungsfähigkeit einer Branche in einer Region soll das Kriterium dafür sein, wo die Unterstützungen hinfließen. Ein Beispiel: Eine abgewrackte Metallklitsche in Sachsen hätte dabei weit weniger Chancen als ein Software-Unternehmen. Zusätzlich wird der Konkurrenzkampf zwischen den Standorten und Regionen angeheizt. Die Idee: ein neues Bonussystem, das künftig die "leistungsfähigen Regionen" mit zusätzlichen Mitteln belohnt. Allerdings: Die prinzipielle Neuausrichtung der Fondspolitik ist wenig strittig. Umkämpft war nur die Höhe der Fonds. Der Kompromiß dürfte so aussehen: Etwa 216 Milliarden Euro werden in den nächsten sieben Jahren in strukturschwache Regionen fließen - deutlich weniger, als die abgetretene EU-Kommission gefordert hatte, aber auch wesentlich mehr, als Bonn zustehen wollte.

Überhaupt ist die Agenda 2000 das Lieblingsprojekt der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, denn die Agenda ist die Voraussetzung für die Ost-Erweiterung der Union. Grund: Ohne einen kalkulierbaren und bezahlbaren Finanzrahmen wird es nichts mit der Eingemeindung des deutschen Hinterhofes im Osten. Das wissen natürlich auch die anderen EU-Partner, und deswegen werden sie sich ihre Zustimmung zu diesem Reformwerk möglichst teuer erkaufen lassen. Auch wenn jetzt in Berlin Schröder finanziell einlenken wird, nachdem er zuvor das Maul wie ein norddeutscher Mastbulle aufgerissen hat - Deutschland bringt die Ost-Erweiterung nur Vorteile: und zwar wirtschaftliche und politische.

Immerhin wächst der Handel zwischen Deutschland und den sechs offiziellen EU-Bewerberländern außerordentlich stark. Die deutschen Ausfuhren nach Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern stiegen in der ersten Hälfte 1998 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 23, 8 Prozent auf 31 Milliarden Mark, belegen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Die Einfuhren nahmen um 24,7 Prozent auf 35, 2 Milliarden Mark zu. Schon im Jahr zuvor war der Handel doppelt so stark gewachsen wie der gesamte deutsche Außenhandel. Für Polen, die Tschechische Republik und Ungarn - die wirtschaftlich gewichtigeren Kandidaten - ist Deutschland der wichtigste Handelspartner.

Auch politisch verstärkt sich durch die Ost-Erweiterung der Einfluß Deutschlands innerhalb der EU. Wenn es hart auf hart geht, wird wohl keiner der ökonomischen Vasallen aufmucken. Nicht zu vergessen das formale Argument, daß durch immer mehr Mitglieder der EU auch deren ursprüngliches Konsensprinzip obsolet wird. Dieses will Deutschland schon seit längerem durch das Mehrheitsprinzip ersetzen lassen. Mehrheiten eben, die auf dem Hinterhof leicht zu finden sind.

Berliner Gipfel hin, Agenda 2000 her: Derartige strategische Optionen läßt sich die Bundesregierung nicht vermasseln. Und ob die Agenda 2000 nun ein paar Milliarden Euro mehr oder weniger kostet, ist tatsächlich Leberwurst. Am Ende wird also wie immer irgendein Kompromiß stehen, auch weil alles andere den Kurs des Euro und damit die gesamte Gemeinschaft gefährden würde.

Dennoch können diese pragmatischen Kompromisse nicht über die sich vertiefenden Risse zwischen den wichtigsten EU-Ländern hinwegtäuschen. Der Grund: back to the nation. Frankreichs Europaminister Pierre Moscovici muß es wissen: In Deutschland "ist eine neue Generation an der Macht, die sich nicht mehr scheut, nationale Interessen offen zu vertreten. Kohl war der letzte Kanzler, für den unser Verhältnis auf der Pflicht zur Aussöhnung beruhte." Das provoziert die Frage nach dem Umkehrschluß - und der ist nicht nur ein grammatikalisches Problem.