Herr und Hundt

Nach Lafontaines Abgang ist die Ökonomie wieder das Schicksal

Oskar Lafontaine war noch keinen Tag aus dem Amt geschieden, da machte ausgerechnet sein Gegenspieler, Wirtschaftsminister Werner Müller, klar, woran der Finanzminister gescheitert war. "Es ist nicht gut", mahnte Müller in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht am Donnerstag vergangener Woche, "wenn die Wirtschaft den Anschein erweckt, sie wolle die Regierung vor sich hertreiben." Die Bundesregierung werde nicht zulassen, daß unter dem Stichwort der Globalität die Politik ihres Wesens beraubt werde.

Wenn ein ehemaliger Manager der Veba AG, den Gerhard Schröder als Mann der Industrie ins Kabinett geholt hat, seine Klientel zur Mäßigung rufen muß, zeigt das etwas von der Aufbruchstimmung, in der sich diese derzeit befindet. Als störend dürfte der Wirtschaftsminister indes weniger die Tatsache als solche empfinden, sondern vielmehr die Offensichtlichkeit des Vorhabens - den "Anschein" eben.

"Daß die Politik das Schicksal sei", ju-bilierte Günther Nonnenmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, "ist ein Satz, der für Ausnahmezeiten gilt, vor allem für Fragen von Krieg und Frieden." In der "glücklichen Lage der Normalität, in der sich Europa seit dem Untergang der Sowjetunion befindet, ist die Wirtschaft, zusammen mit dem, was wissenschaftlich-technischer Fortschritt genannt wird, zum Schicksal geworden". Die Demokratie, räsoniert der FAZ-Herausgeber weiter, werde damit leben müssen: "Ihr aus der Aufklärung überkommenes Selbstverständnis als kollektive Selbstbestimmung würde sonst als die Freiheit mißverstanden, mit dem Kopf durch die Wand wollen zu dürfen."

Mit dem Kopf durch die Wand - das heißt: "Politik gegen die Wirtschaft machen" (Schröder) - will im Bonner Kabinett nun keiner mehr, seitdem sich Oskar Lafontaine mit seinem Beharren auf dem Primat der Politik einen blutigen Schädel geholt hat. Der Eindruck allerdings, die Wirtschaft übe Druck auf die Bundesregierung aus, läßt sich beim besten Willen nicht vermeiden. Der Bundesverband deutscher Banken verlangte vergangene Woche "eine grundlegende Überarbeitung" der Steuerreform und sprach sich für "generell niedrige Steuersätze" aus.

Der Finanzchef des DaimlerChrysler-Konzerns, Manfred Gentz, ging noch weiter: In einem "Brandbrief" (Süddeutsche Zeitung) an den Bundeskanzler drohte Gentz, falls keine vernünftige Regelung gefunden werde, könnten "Konzernzentralen ihren Sitz aus Deutschland heraus suchen" - obwohl der Konzern in Deutschland nach Angaben des Sprechers des Bundesfinanzministeriums, Torsten Albig, seit dem Jahr 1995 keine Steuern mehr gezahlt hat.

Zunächst einmal blieb es bei der Drohung: Die erste Stufe der rot-grünen Steuerreform wurde vergangene Woche im Bundesrat trotz heftiger Proteste der Unternehmer wie geplant verabschiedet. Doch auch hier darf man Müller glauben: "Die Steuerreform ist besser als ihr Ruf", beruhigt der Wirtschaftsminister. Man wolle "niedrigere Tarife für Unternehmen". Eine Gesamtbesteuerung von höchstens 35 Prozent hat Müller der Wirtschaft versprochen. Überhaupt steht die Reform der Unternehmensbesteuerung erst im kommenden Jahr an - da können dann Gerhard Schröder und der designierte Finanzminister Hans Eichel zeigen, was Politik für die Neue Mitte wirklich heißt.

Grundlage dafür könnten die Vorstöße des SPD-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement werden, der bereits gefordert hat, die Steuer auf alle gewerblichen Einkünfte auf 28 Prozent zu senken. Und auch die Vorsitzende des Bundestags-Finanzausschusses, Christine Scheel (Grüne), kündigte gegenüber der Rheinischen Post an, die Körperschaftssteuer von den bereits beschlossenen 40 auf 23 Prozent senken zu wollen.

Und Kanzleramtsminister Bodo Hombach, der sich eine Büste von Ludwig Erhard ins Büro gestellt hat, kündigte nach dem Lafontaine-Rücktritt bereits an, wohin die Reise gehen soll: Weg vom "Rundum-Sorglos-Staat", hin zu mehr Eigenverantwortung und weniger sozialer Absicherung. Im Jargon des Sozialdemokraten heißt diese Gebrauchsanweisung für die Demontage des Sozialstaats "Zukunftskonzepte" oder "mutige, unkonventionelle Ansätze". Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt fieberte schon im vergangenen Herbst einem "zweiten Bad Godesberg" entgegen: "Kann Hombach sich durchsetzen, dann kann die SPD ihre zweite marktwirtschaftliche Erneuerung bewältigen."

Ihre Bestätigung findet die Appeasement-Politik der Bundesregierung im raschen Bruch mit der von Lafontaine verfolgten Nachfragepolitik: "Nur die Wirtschaft kann Arbeitsplätze schaffen, nicht der Staat", sagt Müller. Diese, so heißt es, seien wegen der mangelnden internationalen Konkurrenzfähigkeit gefährdet - auch wenn der Dachverband der Industriestaaten, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ganz andere Zahlen kennt. So sind größere deutsche Unternehmen nach Berücksichtigung von Abzugsmöglichkeiten zwischen 1991 und 1996 mit durchschnittlich nur acht Prozent Gewinnsteuern belastet, die Vergleichswerte für die USA und Großbritannien betrugen 24 bzw. 48 Prozent.

Für Gerhard Schröder birgt der Sieg über Lafontaine allerdings ein Dilemma: Er wird seinen Wählern erklären müssen, warum nun zwar mit der "sozialen Gerechtigkeit", der "Politik für Arbeitnehmer und Familien" (Lafontaine) vorerst Schluß sein wird, die Zahl der Arbeitslosen aber schon jetzt um eine halbe Million seit dem 27. September 1998 gestiegen ist.

Wie sich die Erklärung anhören könnte, hat der Bundeskanzler für die Süddeutsche Zeitung unter der Überschrift "Alte Linke und Neue Mitte" notiert. In dem Beitrag, der sich mit dem Buch "Der Dritte Weg" des Briten Anthony Giddens beschäftigt, beschreibt Schröder, "wie Sozialdemokratie sich behaupten kann". Die SPD, so heißt es darin, sei längst nicht mehr diese alte Sozialdemokratie, die dem Markt zutiefst mißtraut und auf immer mehr Staat setze.

"Der Staat", das weiß Schröder, "kann die Wirtschaft nicht ersetzen." Zwar geht der Kanzler nicht so weit wie der Autor Giddens, der den Wohlfahrtsstaat für prinzipiell undemokratisch hält, weil er auf einer Umverteilung der Mittel von oben nach unten beruhe. Aber auch was Schröder ankündigt, klingt beängstigend genug: "Gerade weil sie den arbeitenden Menschen verpflichtet ist, darf die Sozialdemokratie sich am allerwenigsten aufführen wie die 'alte Linke', die glaubte, sozialdemokratische Politik müsse sich in erster Linie gegen die Wirtschaft richten."