Die institutionelle Austreibung von Reformen

Europas neue Friedhöfe

An Europa werden wieder Hoffnungen geknüpft. Ähnlich der idealistischen Aufbruchstimmung nach 1945, in der Europa für eine Friedensordnung stand, die irgendwo zwischen Kapitalismus und Bolschewismus siedeln sollte. Die Neuauflage des "dritten Weges" als rheinischer Kapitalismus entbehrt zwar der Utopie - als Vision für ein sozialdemokratisches Europaprojekt taugt es aber immer noch. Im Unterschied zur Nachkriegszeit aber stützt sich die europäische Hoffnung weniger auf eine politische Bewegung; sie wird als kruder "Transformismus" der politischen Institutionen geboren: der Koppelung des Umbaus sozialdemokratisch regierter Länder mit einer institutionellen Reform der EU. Damit soll das Elend, sich entweder chauvinistisch in den nationalen Rahmen zurückzuziehen oder einer neoliberalen Reform zustimmen zu müssen, überwunden werden.

Einer etwas in Vergessenheit geratenen Politiktheorie zufolge sind "integrale Staaten" und die politischen Institutionensysteme entwickelter kapitalistischer Gesellschaften immer nur der Ausdruck eines momentanen sozio-politischen Kräfteverhältnisses. Sie folgen einer "Logik" hegemonialer Blockbildung. In den politisch-institutionellen Formen gelingt es der Bourgeoisie, ihre Herrschaft im Kompromiß der Klassen zu erneuern und damit überhaupt dauerhaft zu machen. Auf europäischer Ebene wurden mit dem Maastrichter Vertrag konkurrierende Globalisierungsprojekte des westeuropäischen Kapitals gebündelt und unter der Hegemonie des Finanzkapitals auf neoliberalen Kurs getrimmt. Mit der Agenda 2000 ist die Neuformierung des gesamteuropäischen Kapitals auf die Tagesordnung gesetzt.

Wie wenig Bedeutung die Bourgeoisie in der bisherigen Produktion des bürgerlich-hegemonialen "Kontinuums der Geschichte" (Walter Benjamin) den europäischen Institutionen zugemessen hat, wird an der lange Zeit mitgeschleppten europäischen Agrarordnung deutlich. Sie wurde erst zur Disposition gestellt, als sie der Erneuerung bürgerlicher Herrschaft im Weg stand. Denn die wieder herzustellende Harmonie zwischen industriellem und Finanzkapital im euro-rheinischen Kapitalismus erfordert zwei Schritte: einerseits die "Vertiefung" des europäischen Integrationsprozesses, um transnationale Modernisierungskoalitionen nach innen zu festigen. Andererseits die "Erweiterung" der Integration nach Osten, um einen innereuropäischen "Imperialismus des Freihandels" neu zu schaffen.

Im institutionellen Balanceakt zwischen Vertiefung und Erweiterung bleiben die Agrarinteressen notwendig auf der Strecke. Denn nur die Integration des Ostens in die EU ermöglicht seine Einbindung in den Verwertungsraum des westeuropäischen Kapitals; und nur die Reform der Agrarpolitik macht dies finanzierbar. Insgesamt zielt die Verbindung dieser tragenden Säulen darauf, durch Verschiebung des Kräfteverhältnisses von Kapital und Arbeit und durch Verbesserung der Verwertungsbedingungen des transnational agierenden Industriekapitals eine neue Allianz aus Industrie- und Finanzkapital zu schmieden.

Gleichzeitig werden in der Finanzreform und durch die beschworene Subsidiarität alle Tore für eine Re-Nationalisierung des sozialen Protestes geöffnet. Indem Beschäftigungs- und Sozialpolitik vorrangig nationale Aufgaben bleiben, sind Bedingungen für die Entfaltung eines europäischen Konfliktes systematisch eingeschränkt. Die zum Gesellschaftsprojekt stilisierte institutionelle Reform der EU zeigt sich als semantische Kosmetik eines neokapitalistischen Herrschaftsprojekts. Die Tatsache, daß es strukturelle Herrschaftsverhältnisse sind, die eine ausgeglichenere Verteilung von Reichtum, Lebenschancen und sozialer Macht verhindern, kann auf diese Weise verdeckt werden.

Peter Weiss sah nach dem Kriege das kapitalistisch restaurierte Europa als einen "Friedhof von betrogenen, verratenen und abgemordeten Hoffnungen". Ausgerechnet die parlamentarische Linke scheint am "fin de siècle" nun die Sicherung eines europäisch-kapitalistischen "Kontinuums der Geschichte" entschlossen zu ihrer Sache gemacht zu haben. Sie ist es damit, die die neuen Friedhöfe in Europa errichtet.