Die Mäntel der Geschichte

Lifestyle-Hedonisten der Neuen Mitte mögen weder Oskar Lafontaine noch Urlaub auf Mallorca.

In den Schlußzeilen des Buches, das der Soziologe Oskar Negt zur Flankierung des SPD-Wahlkampfes vor einigen Monaten vorgelegt hatte, geht es um ein Dreigespann. Gerhard Schröder ist das "Stangenpferd jener Troika", Lafontaine und Scharping sind im Ensemble die "Seitenpferde": "Bekanntlich bewegen sich die Pferde in diesem Dreigespann vor Schlitten oder Wagen in verschiedener Gangart. Das Stangenpferd im Trab, die Seitenpferde im Galopp. Die Deutung dieses Bildes überlasse ich dem Wähler."

Welch surreale Anmut: Das Seitenpferd Scharping ist in einem Düsenflieger zwischen Pristina und Belgrad unterwegs, das Seitenpferd Lafontaine sitzt beim Gnadenbrot auf einem Saarbrücker Einfamilienhaus-Balkon und das Stangenpferd Schröder zieht in Schlitten oder Wagen umher und sucht nebenbei neue Seitenpferde.

Eine Boheme also? Oskar Negt hatte eher an Arbeit gedacht: Die verschiedenen "Temperamente, Charakterprägungen und Denkweisen" des Trios seien notwendig für "eine produktive Kooperation, die ohnehin immer stärker an die Stelle flacher Personalisierungen treten muß. In den verschiedenen politischen Tugenden der einzelnen, in einer Politik, die als kooperativer Arbeitsprozeß verstanden wird, liegen die Chancen des Wandels." Soziologie, die um den Wahltermin herum Konjunktur hatte, aber nun als Reklame dasteht.

Als Lafontaine demissionierte, standen nicht nur die Börsianer, sondern auch die Kommentatoren stramm wie eine Ehrenkompanie: Glückwünsche an den Kanzler und freundliche Mahnungen, endlich für Ordnung im eigenen Laden und im Land zu sorgen. Die Redaktion der Hamburger Woche, seit Monaten als Schröder-Fanclub etabliert, titelte für alle: "Geht's jetzt los?"

In die Erleichterung über Lafontaines Abgang mischte sich aber auch eine Prise jener Sorte Wut, die in Deutschland entsteht, wenn der Gegner nicht vernichtet, sondern nur geschlagen wird. Lafontaine war - ziemlich allein - angetreten, die Umverteilung von unten nach oben ein wenig zu bremsen. Die Gegner waren stärker.

Ohne Selbstverrat kapitulierte er mit abgespreiztem Mittelfinger, eine Geste der Verachtung, die verstanden wurde: "So jähzornig kann einer den Posten des Schriftführers im Kegelclub hinwerfen. Wer aber Deutschland repräsentieren will, kann nicht verschwinden wie eine beleidigte Leberwurst", schrieb Focus-Chefredakteur Helmut Markwort. "Seine Flucht aus Bonn gleicht einem Amoklauf. Er kappte alle menschlichen und politischen Verbindungen. Hier hat sich ein Mann aufgegeben", so die Bunte. Die Umstände des Rücktritts, analysierte die taz, zeugten "von einer erschreckenden Egozentrik, die nur noch sich selbst als Maßstab kennt, und von weltenferner Gleichgültigkeit gegenüber den Folgen, die eigene Entscheidungen für andere nach sich ziehen (...). Vielleicht ist an dem alten Klischee doch etwas dran, daß Politik den Charakter verdirbt."

Dabei hatte - nimmt man die Ideale hiesiger Volkspädagogik beim Wort - Lafontaine nur vollzogen, was in jeder Klage über Politikverdrossenheit mit viel Pathos eingefordert wird: Die Sache, das politische Projekt nämlich, über die Posten, die Diäten und den Dienstwagen zu stellen. Da Lafontaines Demonstration aber auch den Verdacht weckte, man könne sich ohne weitere Beschädigung dem Dienst am Vaterland entziehen, wurde die Demission pathologisiert. In keinem Kommentar fehlte der Hinweis, den die Zeit so formulierte: Es sei ein "historischer Irrtum", man "könne gegen den Rest der Welt Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben". Die Woche nahm sich den "Politik- und Arbeitsstil der 68er" vor und kam - den Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer zitierend - zu einem niederschmetternden Resultat: "Eine Generation, auf die kein Verlaß ist, ein schwankendes Rohr im Wind der neuen Zeit, ohne festen Orientierungsrahmen, ohne psychische Stabilität." Peter Glotz fragte: "Fehlten dem Zampano ein paar Sekundärtugenden?" Schröder ist hier ausgenommen. Drei Tage vor der Wahl im Herbst vergangenen Jahres war in der Zeit über Schröder zu lesen, die Studentenbewegung "mag ihn ein bißchen angesteckt und mitbewegt haben, fasziniert hat sie ihn nicht".

Eine Klarstellung, die zum Fluchtpunkt der Hysterie um Lafontaines Abgang wurde. 68er in der Woche: "Zwei Seelen, ach, in ihrer Hedonistenbrust. Jene Aufsteiger der saturierten Enkel-Generation machten nie einen Hehl daraus, daß es, bei allem Streben nach der Macht, für sie mehr im Leben gibt als Politik. Die dritte, die vierte Ehefrau, Rotwein, Toskana, Zigarren - im Vorhof der Macht brachte ihnen die Leichtigkeit ihres Seins hier und da zwar Spott, aber auch Sympathien ein." So kann man sich täuschen.

Seit die "Freude am Genuß" (Woche) zum Markenzeichen deutscher Alltagsbefindlichkeit avanciert ist, dürfen sich auch politisch hochgestellte Persönlichkeiten ungestraft als Hedonisten etikettieren. Es gibt jedoch Maßstäbe, und gesetzt werden sie von einer Neuen Mitte, die sich weltbürgerlich, tolerant und kunstsinnig gibt, aber preußisch bis ins Mark ist. Lafontaine stand hier unter strenger Beobachtung: Sein Hedonismus kam unangestrengt im Freibier-für-alle-Gestus daher, in einem Interview hat er mal gesagt, wichtiger als die Macht sei ihm "fressen, saufen, vögeln". Nichts Exklusives also, die Toten Hosen könnten seine Kumpels sein.

Schröders Hedonismus dagegen ist Emblem, Ausweis eines erfolgreichen Aufstiegs und deshalb ständig um Distinktionsgewinn bemüht. Vergangene Woche erschien die erste Ausgabe der Gruner&Jahr-Zeitschrift Life&Style, mittendrin eine Fotostrecke mit dem Kanzler: Schröder vor dunklem Hintergrund; Schröder, nachdenklich mit Zigarre, Staatsmann; Schröder entspannt auf einem Stapel Edelholzkisten: Weniger ist mehr. Schröder in einem ausladenden dunklen Mantel, die linke Faust hält den Aufschlag zusammen, der Mann scheint dennoch zu frösteln: Erfolg macht auch einsam und melancholisch.

Fotografiert hat der "weltberühmte Fotograf" Peter Lindbergh, die Überschrift lautet: "Der Lifestyle-Kanzler". Im Artikel heißt es: "Exquisites Schuhwerk, elegante Garderobe, jugendliche Lockerheit in Bonn - das ist der Lifestyle des Gerhard Schröder." Der Fotograf faßt zusammen: "Dieser Mann verkörpert wie kaum ein anderer Politiker wahren Stil."

Ein Set für die Neue Mitte, das unter Kohl so nicht zu haben war. "Der Schröder-Stil: Er fährt Audi, mag italienische Anzüge, Rotweine und Pasta." Das klingt anders als Kartoffeln, Sauerkraut und Mercedes, und das ist der Lohn für harte und ehrliche Arbeit. So wird das Ordinäre zum Exquisiten, und der Mob darf sich als Elite halluzinieren. Trotz zweifelhafter Distinktionszuwächse: Kaum kann man sich etwas leisten, ist es schon zur Massenware geworden und hat alle Qualitäten der Differenz verloren. Deshalb ist in Life&Style alles perfekt: "Perfekt" ist der "Lifestyle-Schrank" von Zanussi, "perfekt" geschnitten der Smoking von Cerruti, "perfekt" die Beine von Maren Gilzer, "perfekt" die Garderobe von Gerhard Schröder, "immer perfekt" das Styling von Gwyneth Paltrow, "perfekt" die Erzeugnisse des Friseurs Gerhard Meir, "perfekt" die Diners von Heidi Schoeller, "perfekt organisiert" Firma und Ehe von Georg und Eva Riedel, "perfekt gestylt" das Schleifenband von Hugo Boss, "perfekten Stil" demonstriert Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld.

Die Vokabel ist Chiffre für den Gemütszustand der Neuen Mitte: Weiter nach oben kann es kaum gehen, nach unten jederzeit. Deshalb ist Schröder, der mit dem Status des Emporkömmlings offensiv umgeht, ihr Typ: Einer, der Verlierer nicht mag und auch Audi fährt - in der DDR hätte man das als Einheit von Klassenkampf und Ästhetik bezeichnet.

Daher rührt auch der Haß auf Lafontaine: Der wollte die Mitte mit den Deklassierten zusammenbringen und das große Geld moderat zur Kasse bitten. Keiner machte mit: Die - eigentlich zuständigen - Gewerkschaften demonstrierten mit eisernem Schweigen den endgültigen Verzicht auf politische Mitsprache, die Neue Mitte hat sich in ihrer verzweifelten Angst vor Vermassung und Abstieg längst zum aggressiven Pöbel entwickelt.

Der von dort nach Lafontaines Rücktritt neu erklingende Ruf nach "echten Reformen" ist die schlecht kaschierte Forderung, dem unteren Drittel Deutschlands mehr Arbeit und weniger Geld zu geben. Lohnzuwächse für die Loser - eine Katastrophe für Deutschland. Die Woche hat es feinsinnig vorgerechnet, als sie ein paar Tage vor dem Rücktritt des Finanzministers dessen nachfrageorientierte Politik geißelte. "Eine Verkäuferin" zahle nach Lafontaines Steuerreform pro Jahr nun 2 500 Mark weniger an Abgaben, "mehr, als sie im Monat verdient". Aber: "Wer sagt denn, daß Lafontaines Verkäuferin ihre 2 500 Mark zusätzlich in den deutschen Wirtschaftskreislauf steckt? Vielleicht kauft sie ein Auto aus Korea. Wahrscheinlich verbrät sie das Steuergeschenk bei einem zünftigen Urlaub auf Mallorca." Einen italienischen Anzug wird sie für das Geld kaum bekommen. Eure Armut kotzt uns an.