Verrat an der Community

Frankreich: Erstmals wehrte sich ein Opfer der Exzision juristisch gegen die Beschneidung.

"Der Sinn eines Geschworenengerichts ist, daß die Geschworenen am besten geeignet sind, über jene zu urteilen, die ihnen ähnlich sind. Während ich dies sage, sehen Sie wohl ein, daß es hier ein Problem gibt." Mit diesen Worten beginnt Rechtsanwalt Henri Gerphagnon sein Plädoyer, um vor dem ausschließlich mit Weißen besetzten Pariser Geschworenengericht für seine Mandantin Dienaba Koita Freispruch zu fordern. Dienaba Koita, eine Staatsbürgerin des westafrikanischen Landes Mali, gehört zu den 27 Angeklagten, die in dem am 2. Februar begonnenen Prozeß vor den Geschworenen erscheinen mußten.

Auf den ersten Blick scheinen die Sympathien des linken Beobachters in diesem Verfahren klar verteilt. 24 Frauen und drei Männer, ausnahmslos westafrikanischer Herkunft (Mali, Senegal) - die meisten von ihnen sind AnalphabetInnen, müssen sich vor einem französischen Gericht verantworten. Die Ehemänner der hier angeklagten Frauen arbeiten zumeist bei der Pariser Müllabfuhr, die Frauen kümmern sich ausschließlich um die Kinder, einige von ihnen kommen mit ihren Babys in den Gerichtssaal. Die, die hier vor Gericht stehen, gehören dem Pariser Subproletariat an, sie sind aus einer rein agrarischen, überwiegend analphabetischen Gesellschaft in die frühere koloniale Metropole zugewandert.

Weniger eindeutig fällt die Verteilung der Sympathien aus, wenn man auf die andere Seite des Gerichtssaales blickt, denn auch auf der Seite der Kläger sitzen Angehörige derselben Community. Den Prozeß ins Rollen gebracht hatte die damals 18jährige Mariatou Koita, als sie im Januar 1994 Strafanzeige gestellt hatte. Die inzwischen 23jährige Tochter der Angeklagten Dienaba Koita - die am Tag nach ihrer Volljährigkeit das Elternhaus verlassen hat und heute eine selbstbewußte Jurastudentin ist - nimmt als Nebenklägerin an dem Verfahren teil. Sie und ihre Schwester Maimouna sind die wichtigsten Zeuginnen der Anklage in diesem Prozeß. Noch stärker neigen sich die Sympathien den Klägern zu, wenn man den Inhalt der Anklage kennt.

Gegenstand des Verfahrens ist die Anklage gegen die 52jährige Staatsbürgerin Malis Hawa Greou wegen gefährlicher Körperverletzung gegen Minderjährige in mindestens 48 Fällen sowie gegen die wegen Beihilfe beschuldigten Eltern. Angeklagt wird sie für eine Tat, die in Teilen des afrikanischen Kontinents sowie bei manchen Bevölkerungsgruppen in anderen Ländern (Malaysia, Indonesien) zur gängigen Praxis gehört. Von der Verstümmelung der weiblichen Genitalien sind nach Schätzungen der UN-Weltgesundheitsorganisation rund 130 Millionen Frauen (davon 120 Millionen in afrikanischen Ländern) betroffen. Entgegen der weitverbreiteten Meinung ist die Exzision kein originär muslimisches Ritual.

Historisch wurden Beschneidungen zuerst im alten Ägypten vorgenommen und von vielen animistischen (Tiergötter anbetenden) Religionen fortgesetzt. Dennoch nehmen viele muslimische Westafrikaner fälschlicherweise an, der Koran schreibe die Beschneidung vor.

Mit dem Beschneidungsritual ist die Vorstellung verbunden, daß die Trennung der Menschheit in ein männliches und ein weibliches Geschlecht von der Schöpfung nur unvollkommen vorgenommen wurde. Deshalb müsse man die Überbleibsel des jeweils anderen Geschlechts - bei der Frau die Klitoris als "Keim eines männlichen Sexualorgans", beim Mann die Vorhaut - entfernen. Die Folgen der Exzision sind für die Betroffene gravierend; die Frauen werden in ihrer sexuellen Empfindungsfähigkeit stark beeinträchtigt und leiden oft ihr ganzes Leben unter starken Schmerzen. Viele Frauen überleben diesen qualvollen Eingriff nicht; sie verbluten oder sterben an einer Blutvergiftung.

Die Kolonialmächte, wie die französische in Westafrika, haben die Verstümmelung der Frauen als rituelle Praxis des Landes toleriert. Lediglich die Briten hatten in Kenia versucht, die Exzision zu verbieten. Als es daraufhin zu Revolten kam, wurde auf die Durchsetzung des Verbotes verzichtet.

In Frankreich, wo es im 13. Jahrhundert eine kurze Phase gab, in der Beschneidungen als eine "Therapie" gegen Hysterie praktiziert wurden, ist die Exzision gesetzlich verboten. Dennoch stellte sich mit den afrikanischen Immigranten die Frage, wie die französische Gesellschaft auf diese illegale Praxis reagiert. Immerhin sind Schätzungen zufolge zwischen 10 000 und 30 000 Frauen in Frankreich beschnitten.

In den letzten Jahren wurde die Strafverfolgung zunehmend forciert: Im Jahr 1979 fand der erste Strafprozeß statt, nachdem ein drei Monate altes Mädchen, Doua, nach der Operation verblutet war; die Frau, die die Beschneidung vorgenommen hatte, erhielt ein Jahr Haft auf Bewährung, die Eltern blieben unbehelligt. Am 20. August 1983 entschied der Kassationshof, das Oberste Gericht, in einem Fall, der nichts mit afrikanischen Traditionen zu tun hatte - eine psychisch kranke Mutter hatte ihre kleine Tochter mit einem Messer verletzt -, daß das Abtrennen der Klitoris den Straftatbestand der gefährlichen Körperverletzung erfülle und mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden könne.

1991 wurde erstmals eine Beschneiderin zu einer (fünfjährigen) Gefängnisstrafe verurteilt, und im Januar 1993 erhielt erstmals eine aus Gambia stammende Mutter, die ihre Tochter hatte beschneiden lassen, ein Jahr Haft plus vier Jahre mit Bewährung. Der letzte Woche entschiedene Prozeß war das 25. mit dem Thema befaßte Verfahren, insgesamt acht Verfahren hatten bisher mit Haftstrafen ohne Bewährung geendet.

Als im Jahr 1994 das Strafprozeßbuch neu geschrieben wurde, diskutierten die Juristen, ob man nicht den speziellen Straftatbestand der Beschneidung schaffen solle. Initiativen, die für die genitale Unversehrtheit der Frauen kämpfen, waren vorab konsultiert worden; sie lehnten einen speziellen Beschneidungs-Paragraphen allerdings ab, da sie die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen befürchteten. Es bleibt daher bei Verfahren im Rahmen der gefährlichen Körperverletzung, für die die Geschworenengerichte zuständig sind.

Das Neue an diesem jetzt zu Ende gegangenen Prozeß ist, daß erstmals eine junge Frau aus der afrikanischen Community, ein Opfer der Beschneidungspraxis, selbst Strafanzeige erstattet hat. Die Besonderheit der Situation von Mariatou Koita trug vielleicht dazu bei, daß sie diesen Schritt unternahm, der sie in ihrer Community zur Verräterin gemacht hat. Aufgewachsen ist Mariatou Koita bei einer weißen Gastfamilie in der französischen Provinz. Erst im Alter von acht Jahren kam sie in ihre Familie zurück, die sofort versuchte, die Tochter auf den Weg der Traditionen zurückzubringen.

Mariatous Vater, ein in Polygamie lebender "Brauchtumschef" (so werden Männer genannt, die als Autorität aller aus einem Dorf stammenden Personen in der Immigrationsbevölkerung gelten und bei Konflikten konsultiert werden), beschuldigt heute die weißen Gasteltern, sie "entführt" zu haben. Nach ihrer Rückkehr in ihre Familie wurde Mariatou beschnitten - ein Akt, den sie um so gewalttätiger empfand, als ihr in der Folgezeit unter strenger Strafandrohung verboten wurde, davon zu sprechen. Während die Beschneidung in den traditionellen Gesellschaften Anlaß zu üppigen Festen ist, wird sie in Frankreich heute heimlich und im frühen Kindesalter vorgenommen, oft an Babys, damit diese sich später an nichts erinnern können. Erst viele Jahre später begreifen die Mädchen, was mit ihnen passiert ist. Dies war auch bei Mariatou so, die erst im Sexualkundeunterricht erkannte, daß sie Opfer einer Beschneidung geworden ist.

Als die Frau, die sie beschnitten hatte, ein zweites Mal das Elternhaus aufsuchte, diesmal, um die Operation an der kleinen Schwester vorzunehmen, erstattete Mariatou Anzeige beim Jugendrichter. "Dieses Mal ist der Blitz nicht durch die Schuld eines weißen Kinderarztes über der 'Community' eingeschlagen. Zum ersten Mal seit 15 Jahren sind es nicht mehr weiße intellektuelle Frauen, die - im Namen der kleinen Mädchen - die Verurteilung afrikanischer Analphabeten fordern", schrieb Libération zum Prozeßauftakt Anfang Februar. Die Anzeige Mariatous erlaubte es den Behörden, auf die Spur der professionellen Beschneiderin zu kommen. Hawa Greou, in der Community "Mama Greou" genannt, war bereits 1987 angeklagt und später zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden.

Rund 100 von Greou mit einem Rasiermesser durchgeführte Beschneidungen wurden aufgedeckt, in lediglich 48 der Fälle konnten gerichtsverwertbare Beweise vorgelegt werden. Das Gericht - im Laufe der Ermittlungen war das Telefon der Frau abgehört worden - konnte im Fall Greou nachweisen, daß die Beschuldigte in Kenntnis der Unrechtmäßigkeit gehandelt hatte; in anderen Prozessen hatte oft die Verteidigungsstrategie der Beschuldigten verfangen, sie hätten als Analphabeten von den Rechtsvorschriften nichts wissen können.

Hawa Greou wurde zu acht Jahren Haft verurteilt, womit der Richter noch über die von der Staatsanwaltschaft geforderten sieben Jahre hinausging. Die Mutter der Nebenklägerin Mariatou Koita erhielt zwei Jahre ohne Bewährung. Alle anderen angeklagten Eltern kamen mit Bewährungsstrafen davon.

Dieser Prozeß, in dem erstmals junge Immigrantentöchter im Gerichtssaal aufstanden und öffentlich gegen die ihnen angetane Gewalt rebellierten, hat die bisherigen kulturalistischen Gewißheiten des "Die sind halt so" erschüttert. So hatte eine Denkschule der französischen Psychologie, die "Ethno-Psychiatrie" mit Tobie Nathan als ihrem prominentesten Vertreter, im Namen des kulturellen Relativismus bis in die jüngste Vergangenheit die Mädchenbeschneidung als notwendig gerechtfertigt, da die Töchter, vor dem Hintergrund traditioneller Glaubensvorstellungen, ansonsten über eine "unvollständige Persönlichkeit"verfügten.

Ein Argument, das um so weniger aufrechtzuerhalten ist, als die Beschneidung auch in einer Reihe afrikanischer Länder (Mali, Gambia, Senegal, Togo und C(tm)te-d'Ivoire) verboten ist. In anderen Staaten bemühen sich regierungsamtliche Stellen und Frauenorganisationen um die Zurückdrängung der Exzision. Auch in Frankreich scheint die Praxis zur negativen Ausnahme zu werden. Mußten die Kinderärzte des Kind- und Mutterschutz-Zentrums der Pariser Mantes-la-Jolie noch 1985 konstatieren, daß 25 Prozent der afrikanischen Töchter beschnitten waren, so war diese Rate Anfang der neunziger Jahre bereits auf unter fünf Prozent gefallen.

Es ist bemerkenswert, daß die meisten der im Prozeß angeklagten Eltern in Paris wohnen, denn die PMI-Zentren der Hauptstadt haben - im Gegensatz zu jenen Zentren in den Banlieues, wo die Beschneidungsrate rückläufig ist - der Aufklärung über die Folgen der Exzision lange Zeit wenig Bedeutung beigemessen.