Je später der Abend

Weil Unsicherheit in öffentlichen Verkehrsmitteln ein subjektives Phänomen ist, können Videokameras und Wachschützer Zivilcourage nicht ersetzen. Das Beispiel Hamburg

Menschenleere Bahnstationen, kein Personal, schlecht beleuchtete Zuwege: Auf wenig befahrenen Strecken und nachts wird vielen Bus- und Bahnnutzern mulmig. Vor allem Frauen und ältere Menschen meiden ab Einbruch der Dunkelheit den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Das Gefühl des Verlassenseins in den S- und U-Bahn-Wagen ist der Auslöser für Ängste derjenigen, die etwa Holger Hafki (37), Leiter der S-Bahn-Wache in Hamburg, als Menschen "mit subjektiv erhöhtem Sicherheitsbedarf" bezeichnet.

Dabei geben sich die Hamburger S-Bahn GmbH und die Hochbahn AG, die die U-Bahn und zusammen mit den Verkehrsbetrieben der angrenzenden Gemeinden das Busnetz betreibt, Mühe, den ÖPNV wieder attraktiver zu machen. Die Zahl der registrierten Straftaten ging im Gebiet des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV) in den ersten drei Quartalen 1998 um 12,4 Prozent zurück, die der Raubdelikte sogar um 26,8 Prozent. Stolz vermelden die Verkehrsbetriebe der Hansestadt, daß im Jahr vorher nur 1 984 von insgesamt 297 000 angezeigten Gewaltstraftaten im Bereich des ÖPNV stattfanden, das sind 0,6 Prozent der Delikte. Doch das subjektive Sich-Wohlfühlen im öffentlichen Raum hat nur wenig mit der sachlichen Statistik zu tun.

Allein die Hamburger S-Bahn gibt jährlich etwa 5,6 Millionen Euro (rund elf Millionen Mark) für Sicherheitsmaßnahmen aus, das sind circa vier Prozent des Gesamtumsatzes. Dazu gehört die Umrüstung älterer S-Bahn-Waggons, in die gläserne Wände und Rufanlagen an den Ausstiegen eingebaut werden, die Installation von Videokameras auf den Bahnsteigen sowie die Erneuerung und Neuplazierung der Notrufsäulen. Den Großteil des Geldes verschlingt das Sicherheitspersonal: Noch in diesem Jahr soll die S-Bahn-Wache von 88 Mitarbeitern auf 120 aufgestockt werden. Dazu kommen die 200 Angestellten des Hamburger Verkehrsbegleitservice, eines von der Sozialbehörde und der S-Bahn getragenen Arbeitsförderungsprojekts. In den Zügen bestimmter Linien fahren außerdem Beamte des Bundesgrenzschutzes und des Bahnschutzes mit; an einigen Bahnstationen sind sie ständig präsent. 250 Personen seien "für Fahrgäste ansprechbar", so Katrin Fech, Pressesprecherin der Hamburger S-Bahn.

Nicht nur die Umrüstung alter Wagen, sondern auch die Anschaffung neuer S-Bahn-Waggons mit verglasten Innenwänden, die den Blick von einem Wagen in den anderen ermöglichen, gehört zu den Maßnahmen, die für Sicherheit sorgen sollen. Allerdings sollen diese Wagen hauptsächlich die Linien bedienen, mit denen man in die gutsituierten Elbvororte Blankenese und Groß Flottbek gelangt, wo zumindest am Abend sowieso die meisten Auto fahren. Die berüchtigte S 3 in den Raum Niederelbe (Wilhelmsburg, Harburg, Neugraben) mit seinen sozialen Brennpunkten wird auch weiterhin von den alten Wagen bedient. Wo der "Vandalismus ein großes Problem ist", wie Die Welt in ihrem Hamburg-Teil konstatierte, da wirft man eben keine Perlen vor die Säue.

Wie hilflos HVV und Behörden angesichts von Gewalttaten und Bedrohungen im Bereich des ÖPNV sind, wurde Anfang Februar klar, als der Verkehrsverbund und das Senatsamt für Gleichstellung zu einer Diskussionsrunde mit dem Thema "Frauen unterwegs in Hamburg - aber sicher!" eingeladen hatten. Senat, Hochbahn, S-Bahn und Polizei hatten Berufsermunterer aufs Podium gesandt, eine "Selbstbehauptungstrainerin" durfte dabeisein und die Vertreterin eines Bürgerprojekts.

Daß mit 200 überwiegend weiblichen Besuchern deutlich mehr Interessierte gekommen waren als erwartet, verwirrte Hamburgs Zweite Bürgermeisterin und Gleichstellungssenatorin Krista Sager gehörig: "Ein Thema, das vielen auf den Nägeln brennt" sei die Sicherheit in Bus und Bahn. Und "tatsächlich ist körperliche Gewalt im ÖPNV eher selten und ja auch nur eine extreme Form der Bedrohung", gab sie zu bedenken. Bedrohung werde oft schon da wahrgenommen, wo durch Schmutz und Verwahrlosung nahegelegt werde, daß Grenzen verletzt und Spielregeln der Gesellschaft nicht eingehalten würden.

Doch das scheint kein exklusives Problem des ÖPNV zu sein. Eine vom Senatsamt beim Institut für Soziologie der Universität Hamburg in Auftrag gegebene Studie "Mobilität und Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum" kam zu dem sensationellen Ergebnis, daß sich 90 Prozent der Frauen im Villenvorort Groß Flottbek sicher aufgehoben fühlen, während dies im weniger privilegierten Stadtteil Hamm Mitte nur 66 Prozent der Befragten zu Protokoll gaben. Der öffentliche Raum, von dem der ÖPNV nur ein Teil ist, kann eben nicht mit Videokameras und Begleitdiensten überwacht werden. Die auch in einer Werbekampagne im vergangenen Jahr von Stadt und Polizei beschworene Zivilcourage ("Wer nichts tut, macht mit") fehlt an allen Ecken.

Deshalb sollen potentielle Opfer nun selbst vorbeugen. In Selbstbehauptungskursen und -ratgebern werden die immer gleichen Tips gegeben: Vermeiden Sie die typisch passive Opferhaltung, stehen Sie gerade, gehen Sie zielstrebig, beanspruchen Sie Raum. Die Nützlichkeit solcher Tips ist umstritten, denn sollte jemand Opfer einer Straftat werden, obwohl er bemüht war, sich diesen Anweisungen entsprechend zu verhalten, tritt ein Bumerang-Effekt ein. Wenn immer mehr Patentrezepte propagiert werden, verstärkt sich der Eindruck, die Betroffenen hätten die Straftat verhindern können, hätten sie sich nur vorausschauender verhalten. Auf diese Weise wird die Verantwortung an die Opfer weitergereicht.

Diesen gesellschaftlichen Realitäten werden weder HVV noch Senatsamt Paroli bieten können. Tenor der Podiumsdiskussion und Forderung eines Mitte 1998 im Vorort Neuwiedenthal gegründeten Bürgerprojekts war: Rufanlagen und Videoüberwachungen in Wagen und auf Bahnsteigen wirken nicht vertrauenerweckend, denn wer weiß schon, wann tatsächlich jemand käme, wenn etwas passierte? Wünschenswert sei statt dessen mehr Begleitpersonal oder zumindest ein ansprechbarer Zugführer. Das rief beim Sprecher der S-Bahn Verlegenheit hervor: Plant man doch, die Züge computergesteuert und führerlos auf die Gleise zu schicken.