Es lebe der Landarzt!

Die rot-grüne Gesundheitsreform will die Kosten drücken und die Stellung der Allgemeinmediziner stärken

Ein Hausarzt ist einer, der in einem repräsentativen Haus sitzt, einige Angestellte hat, langweilige Zeitungen und Zeitschriften und viele liebe Patienten und Patientinnen, junge und alte, männliche und weibliche. Im Idealfall wohnt der Hausarzt in einem Landhaus, dann ist er Landarzt, und die glücklich geheilten und deswegen dankbaren Leute bringen vorbei, was ihnen die Erde geschenkt hat: Blumen vom Feldrain, Erdbeeren aus dem Garten, selbstgebackenenes Brot, Forsythienzweige zum Frühlingsanfang. Idylle.

Wenn der Hausarzt nicht weiter weiß, wenn also Schnupfen, Fußpilz oder Kopfschmerzen nicht eindeutig diagnostizierbar sind, dann kennt der Hausarzt viele kompetente Spezialisten: eben seinen Freund, den Hals-Nasen-Ohren-Arzt in der Kreisstadt, seine ehemalige Kommilitonin, die Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, und den alten Neurologen. Denen vertraut er seine Patienten und Patientinnen an, und die werden schon deswegen wieder schnell gesund und arbeitsfähig, weil alles so nett ist. Wie im Film, so auf Erden. Rot-grüne Gesundheitsreform, die die Stärkung der Hausärzte verspricht.

Damit alles so werden kann, müssen sich die Bonner Koalitionäre allerdings sehr anstrengen, denn die Wirklichkeit ist viel gemeiner: Die Leidenden telefonieren das ganze Telefonbuch durch, um herauszubekommen, an welchen Facharzt sie sich akut zu wenden haben; die Ärzte führen unnütze Untersuchungen durch, um noch mehr Honorare abzuzocken; die Ärztekundschaft rennt skrupellos zum nächsten Mediziner, wenn sie zweimal zu lange warten mußte oder durch die Aufklärung bunter Heftchen mißtrauisch geworden ist; der liebe Doktor verschreibt die teuersten Medikamente, damit Apothekerschaft und Pharmaindustrie verdienen; die Krankenhäuser würden am liebsten jedes Bett doppelt belegen, damit ihre Budgets nicht weiter zusammengestrichen werden. Am Ende wird alles so teuer, daß sich die Stimmen mehren, den ganzen gesundheitspolitischen Sozialstaatsklimbim abzuschaffen. Erst Cash, dann Krücke.

Das muß nicht sein, ruft allen voran der SPD-Politiker Rudolf Dreßler, der gern Arbeits- oder wenigstens Gesundheitsminister geworden wäre, sich aber der Koalitionsdisziplin beugen mußte. Seine Idee: Sozialismus im Gesundheitswesen. Mit allen Vor- und Nachteilen. Als da wäre die Einschränkung der individuellen Freiheit. Schließlich könne es nicht angehen, so Dreßlers Extrembeispiel, daß ein Versicherter - dem offensichtlich eine Hypochondertherapie von seiner Krankenkasse vorenthalten wurde - im Januar 1998 sage und schreibe 42 Rezepte von 29 Ärzten in 19 Apotheken eingelöst habe.

Dreßlers Vorschlag: Pro Quartal sind nur noch zwei Hausarzt- und ein Facharztbesuch ohne Überweisung möglich. Die Chipkarte der Patienten würde dahingehend umprogrammiert. Millionen könnten mit diesem System eingespart werden, so Dreßler. Überflüssige Behandlungen, von denen nur einige ausgewählte Ärzte auf Kosten der Beitragszahler profitieren, wären nahezu ausgeschlossen. Sehr sparsam war in dieser Beziehung die DDR. Im sogenannten Sozialversicherungsausweis, der auch dem Arbeitgeber vorgelegt werden mußte, wurde nicht nur jeder Arztbesuch akribisch vermerkt, sondern auch die entsprechende Diagnose und Therapie. Schlechte Karten für Simulanten und Hypochonder; nach zehn Jahren war noch feststellbar, wer wann und warum bei welchem Arzt war.

Dreßler konnte sich mit seinem Vorschlag bei der Koalitionsklausur zum Thema Gesundheitsreform in der vergangenenen Woche nicht durchsetzen. Geprüft wird derweil das Modell der grünen Gesundheitsministerin Andrea Fischer. Sie will einen Beitragsbonus für diejenigen Versicherten einführen, die sich am Hausarztsystem freiwillig beteiligen. Dreßler lehnt dies wiederum ab, weil davon in erster Linie junge und selten kranke Menschen profitierten. Einig war man sich allerdings darin, höhere Vergütungen für die Allgemeinärzte erzielen zu wollen.

Wenig Streit gab es auch bei einem weiteren Punkt: die Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung, die ärztliche Standesdünkel zum Teil pragmatisch auflösen würde. Krankenhausärzte sollen sich künftig für die Zulassung zur ambulanten Facharztbehandlung bewerben können. Im Gegenzug wird niedergelassenen Ärzten gestattet, kurzstationäre Behandlungen im Krankenhaus durchzuführen.

Hintergrund auch dieser Maßnahme: Kosteneinsparung durch Flexibilisierung der Ärzteschaft. Der Aufbau teurer Doppel- und Mehrfachkapazitäten kann so vermieden werden. Darüber hinaus wird die Budgetierung der Ärztehonorare beibehalten - Ursache der Protestaktionen einer der bestverdienenden Berusfgruppen in den vergangen Wochen. Die Krankenkassen bekommen größere Rechte bei der Verteilung des Geldes auf Ärzte und Kliniken.

Auch soll es künftig weiteren Profiteuren des bisherigen Systems ein wenig ans Portemonnaie gehen: der Pharmaindustrie. Sechs bis sieben Milliarden Mark jährlich, schätzt die rot-grüne Koalition, gibt die gesetzliche Krankenversicherung für Medikamente mit zweifelhafter Wirkung aus. Dem will die Koalition durch die sogenannte Positivliste begegnen, die die Vorgängerregierung nie zustandebrachte. Verschreibungsfähig wären dann nur die jeweils billigsten und tatsächlich wirksamen Präparate einer Arzneimittelgruppe. Wollten Patienten unbedingt das Produkt eines bestimmten Herstellers, müßten sie es unter Umständen selbst bezahlen.

Die Details dieser klassisch sozialdemokratischen, weil das kleinere Übel suchenden Gesundheitsreform mögen verwirrend sein - die Tendenz ist dennoch abzusehen. Um das System der Gesetzlichen Krankenversicherung langfristig aufrecht erhalten zu können, sollen die Ausgaben begrenzt und budgetiert werden. Folge ist sowohl eine - wenn auch geringe - Einschränkung des Leistungsangebotes als auch eine deutliche Beschneidung der Privilegien gutverdienender Gruppen und Branchen.

Kein Wunder, daß dies der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände nicht paßt. Sie sieht in den Beschlüssen "keinen Durchbruch" zur Bewältigung der Strukturprobleme in der Krankenversicherung und zur Senkung der Sozialbeiträge. Ihr Modell sieht anders aus: Reduzierung der Krankenversicherung auf die absolute Grundversorgung. Was darüber hinausgeht, müßte von den Betroffenen selbst finanziert werden.