Wir haben es gewußt

Deutsche Einzelschicksale auf der Berlinale.

Kultur wird den Deutschen immer wichtiger. Kein Wunder bei so viel Arbeitslosen, die sich die neue Bundesregierung eigentlich als erste vorknöpfen wollte. Aber statt dessen unterhält sich Kanzler Schröder lieber mit der Viertel-, Halb- und Vollprominenz und läßt keine Fete aus. Kürzlich wunderten sich die Puhdys über seine Einladung zu einem Gespräch, das auch noch im ehemaligen Staatsratsgebäude stattfand. Er habe sich verdammt viel Zeit genommen, ob er denn sonst nichts zu tun habe?

Da erstaunt es nicht, daß er es sich nicht nehmen ließ, als erster Bundeskanzler auch an der Eröffnung der Berliner Filmfestspiele - so etwas wie die PopKomm für Erwachsene - teilzunehmen. Schließlich haben er und das Land jetzt extra einen Staatsminister für die Unterhaltungsabteilung, auch wenn das irgendwie mit dem alten westdeutschen Föderalismus nicht zusammenpaßt.

Während der eine oder andere über solche Fragen sinnieren mag, wurde auf der Berlinale klar, was Michael Naumann eigentlich macht: Er schreibt Reden für den Chef. Für die Eröffnung der Filmfestspiele hatte er auch eine angefertigt, was man nur deswegen weiß, weil Gerhard Schröder die Lesebrille vergaß und kurzerhand "Schröder pur" sprach. Anschließend wurde gefeiert bis in die Puppen. Denn das Engagement des Kanzlers hatte noch einen Grund: Mit "Aimée und Jaguar" gibt es seit Jahren wieder einen Eröffnungsfilm aus Deutschland! Und er spielt auch noch im Nationalsozialismus!

Trotzdem: Er verdeckte nur kurz den allgemeinen Kummer darüber, daß bei allem Aufwand der Marktanteil des deutschen Films innerhalb eines Jahres um 50 Prozent gesunken ist. Wohin denn die deutsche Kultur mit der Identität im Gepäck bloß entflüchtet sein mag, darüber gab es abendfüllende Gespräche, in denen sich Ratlosigkeit breitmachte.

Roland Emmerich und Wolfgang Petersen, unsere Erfolgskinder in Hollywood, kamen extra angereist und zerbrachen sich vor Ort und laufenden Kameras den Kopf. Emmerich empfahl weiterhin Komödien, Petersen dachte an die schönen Zeiten des Autorenkinos zurück. Ansässige Filmemacher sollten ihre eigene Identität zur Schau stellen. Also aus dem größten Verbrechen der Weltgeschichte ein paar Kulturaccessoires schaffen? Emmerich plant ein Projekt über Rommel, den Wüstenfuchs. Petersen: "Ich auch!" Na also, ist doch alles da, Täter- oder Opfergeschichte - scheißegal.

Das mit der Identität ist so eine Sache. Die läßt sich zweifellos von außen besser beurteilen, und in der ganzen Welt scheint man irgendwie vor Augen zu haben, wo die Deutschen sie suchen sollten. Doch für die scheint das einfach nicht zu klammern. Immer geht der Blick nach Hollywood, weil dort die Stars sind, deren Anwesenheit auch Deutschland erst Glanz verleiht. So läßt sich umgekehrt die Sucht nach Stars aus Hollywood erklären: Je mehr davon da sind, desto wichtiger ist Deutschlands Filmfest Nummer eins. Wir sind wieder wer. Staatsminister Naumann will sich um engere Kontakte zu Hollywood bemühen, und das zeitigt schon erste

Ergebnisse. Tagesschau-Lady Susan Stahnke wird dort die Frau von Hermann Göring spielen (siehe auch Seite 30).

Naumann will aber auch eine deutsche Filmproduktion. Mehr Risikokapital mahnt er an, wobei sich an den Konditionen der Filmförderung nichts ändern soll - das Geld werden wieder dieselben bekommen. Und Berlin soll größer, schöner und wichtiger werden, als Filmstandort in Europa. Naumann: "Palmen, Strand und Lagunen ersetzen wir durch Kreativität und Spontaneität."

Max Färberböck, Regisseur von

"Aimée und Jaguar", findet, daß die Erzählung von Einzelschicksalen aus der Zeit des Nationalsozialismus ohne Spielbergs "Schindlers Liste" nicht möglich gewesen sei. Stimmt. In den letzten Jahren tut Spielberg einfach alles für Deutschland. Er kam sogar extra hierher, trieb sich in Schulklassen herum, um dort mit jungen deutschen Leuten zu diskutieren.

In Berlin hatten die meist türkische Eltern, und sie beklagten den Rassismus hierzulande ("Brennende Asylheime gibt's immer noch"), der nicht in dem Maße zurückgegangen ist wie der Marktanteil des deutschen Films. Die Diskussion um den Doppelpaß, meinten die Jugendlichen, habe gezeigt, wie rassistisch Deutschland wirklich sei.

Da war es bitter, daß die Benefiz-Veranstaltung der Shoah Foundation im Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf manchen Prominenten verzichten mußte, weil sie zeitgleich mit der Eröffnung der Berlinale terminiert worden war. Auf Schröder zum Beispiel. Was hätte der erzählt? In seiner Logik - wenn die Juden nicht ermordet worden wären, wäre Deutschland heute spitze ("Wo wären wir ohne den Holocaust heute?") - hätte er Spielberg wahrscheinlich zu einem deutschen Regisseur erklärt. Das hätte wiederum zur allgemeinen Stillosigkeit gepaßt. Und um die Einzelschicksale aus der Zeit des Nationalsozialismus kümmert sich Guido Knopp auch schon im Fernsehen.

Der Film, der Identität spendet - schwer zu sagen, ob ihn jemand fand, brauchen tun ihn alle. Außer Identität gibt es eben nichts, sie ist ein mehr oder weniger einträglicher Markt und reicht bis ins linke Milieu. Bis zu der Frage, wo denn der Film sei, der sich endlich mal echt gegen den Kapitalismus ausspreche. Doch da scheint man in Berlin, wo jeder Zehnte irgendwie mit Medien zu tun hat und täglich an 35 Plätzen irgendwas gedreht wird, weiter zu sein als manche denken. Hier gibt es mittlerweile einen echten Mangel an Gefängnis-Drehorten!

Jedenfalls ist das schöne Fest jetzt fast vorbei, wie jedes Jahr gab es auch ein paar Perlen auf der Berlinale, die in dem Wust schwer aufzufinden waren. Der Wettbewerb war wie immer schrottig, und das erklärte Filmjournalistin Karin Hallwass vom Filmforum so: Weil ja sowieso nicht alle Filme einen Goldenen Bären erhalten könnten, müßten von Anfang an auch ein paar schlechte laufen.

"Die Leute wollen offenbar alle die gleichen Filme sehen" (Brigitte Werneburg, taz): Dieser erstaunlichen Einsicht folgt die seit Jahren amtierende Festspieldirektion seit eh und je, und wer bitte setzt sich Hellmuth Karasek in die Jury? Moritz de Hadeln, Ulrich Gregor - nächstes Jahr sind sie gewiß alle gefeuert, da ist Wechsel nötig. Dann läuft das Fest auf dem von illegal beschäftigten Bauarbeitern zu Minuslöhnen aus dem Boden gestampften Potsdamer Platz, damit dort nächstes Jahr ein Jubiläum gefeiert werden kann: Die Berliner Filmfestspiele werden 50 Jahre alt. Und im Jahr 2002 wird Leni Riefenstahl 100 - dann bekommt sie einen Goldenen Bären für ihr Lebenswerk und umgekehrt im Holocaust-Mahnmal ist nach Naumanns Vorstellungen dann jeden Tag Filmfest.

Ich jedenfalls wollte gleich am ersten Tag meine Karte zurückgeben. Für mein Lieblingskino International - das liegt bei mir quasi um die Ecke - im Ostteil der Stadt mußte man sich in diesem Jahr jeden Tag die Karten am Ticketschalter am Zoo abholen. "Da haben Sie Pech gehabt." Dann war der Kartencomputer kaputt. Doch man sollte sich nicht groß aufregen, wenn man sein Geld damit verdient, sich im Dunkeln den Hintern plattzusitzen. Und nächstes Jahr, wenn das Filmfest in Europas größtem Ringcenter stattfindet ("Die überdachte Piazza davor eignet sich wunderbar für die Vorfahrt von Stars", Ute Wüest von Vellberg, Projektsprecherin von Sponsor Daimler) - geht sowieso gar nichts mehr, obwohl der Filmpalast am Potsdamer Platz fetter ist als der von Cannes. Der Millenium Bug wird nicht nur die Kartencomputer gekillt haben, sondern auch alles andere. Nick Nolte wird dann mit seiner Damenunterwäsche am Flughafen von Los Angeles festsitzen, und Michael Naumanns Flieger findet den Boden nicht mehr. Oder wie die Berlinale-Zeitschrift Moving Pictures schreibt: "Die Erfahrungen dieses Jahrhunderts haben gezeigt: 'Wir haben es nicht gewußt' ist keine akzeptable Form der Vergangenheitsbewältigung. Kein schlechter Start in ein neues Jahrtausend!" Naumanns nächste Rede, die der Bundeskanzler nicht hält, dafür aber Schröder pur redet, gibt es bestimmt auf der Popkomm. Über die Verantwortung deutscher Popmusiker, Bravo und Spex für die deutsche Identität und den Arbeitsmarkt. Mit Besuch bei Viva.