Neue Steuern braucht das Land

Das Bundesverfassungsgericht zwingt die Bundesregierung zu einer familienfreundlicheren Steuergesetzgebung. Auch die neue 630-Mark-Regelung könnte bald in Karlsruhe landen

KonsumentInnen, aufgepaßt! Der Winterschlußverkauf hat begonnen. Zeit, die ständig aufgeschobenen Einkäufe endlich billig über die Bühne zu bringen: Neue Klamotten, neue Schuhe, neues Glück - die Sonderangebote locken, die Jahreszeit zum zwangfreien Einkauf ist der Winter, schließlich dauert der ja ohnehin schon lange genug.

Wie, kein Geld in der Tasche? Keine Sorge, denn das wird sich bald ändern. Dafür steht, so man ihr Glauben schenken mag, seit Oktober vergangenen Jahres die neue Regierung, und, wenn nicht, seit letzter Woche auch das Bundesverfassungsgericht.

Mehr Geld ausgeben, die Familien, die Binnennachfrage und gleichzeitig noch die sozialen Sicherungsnetze stärken: All das umzusetzen verspricht nun schon über drei Monate hinweg der neue Finanzminister Oskar Lafontaine (SPD). Nach dem Urteil aus Karlsruhe aber wird er nicht mehr darum herumkommen, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen. Familienfreundliche Regierungspolitik sozusagen, verordnet per Gerichtsbeschluß.

Denn, so urteilten vergangenen Dienstag die höchsten deutschen Richter, die bisherige gesetzliche Regelung der Kinderfreibeträge verstoße gegen das Grundgesetz. Der Gesetzgeber müsse die Ungleichbehandlung verheirateter Eltern aufheben, mit der Konsequenz, daß diese bald mit erheblichen Steuerentlastungen rechnen dürfen.

Nein, rechtzeitig zum Winterschlußverkauf wird die rot-grüne Regierungsmehrheit das nicht mehr schaffen. Bis zum Jahresende, so die Vorgabe aus Karlsruhe, müsse die Neuregelung stehen. In zwei Stufen, beginnend im Jahre 2000, muß der Gesetzgeber Ehepaaren zunächst Freibeträge in Höhe von 4 000 Mark für das erste und 2 000 Mark für jedes weitere Kind gewähren. Zwei Jahre später dann soll der bisher nur Alleinerziehenden zustehende Haushaltsfreibetrag von 5 616 Mark auch auf Verheiratete mit Kindern ausgeweitet worden sein. Den Verfassungsklagen mehrerer Eltern gegen diese Regelung gaben die Richter nun nach.

Zwanzig Milliarden Mark wird der Familienreigen die Regierung mindestens kosten, Geld, das in die Brieftaschen der VerbraucherInnen fließt. Für Lafontaine war das zunächst kein Grund zur Besorgnis. Einen Tag nach dem Urteilsspruch machte er noch gute Miene zum bösen Spiel: Einen silbernen Kaffeelöffel schwenkend, teilte er vor der ersten Kabinettssitzung nach der Urteilsverkündung mit, die Regierung könne ja immer noch ihr "Tafelsilber verkaufen". Den Beschluß begrüßte er als Unterstützung der Regierungspläne, mehr für die Familien zu tun. Seine Parlamentarische Staatssekretärin, Barbara Hendricks (SPD), hatte da schon eher die leeren öffentlichen Kassen im Blick; natürlich paßten der Regierung die Einnahmeausfälle nicht ins Konzept. Über neue Finanzierungsmöglichkeiten reden wollte freilich auch sie nicht - dafür sei es noch zu früh.

Anders der Koalitionspartner: Die Fraktionsgeschäftsführerin der Bündnisgrünen, Kristin Heye, forderte noch am Tag des Urteils, die ohnehin geplante Einschränkung des Ehegattensplittings vorzuziehen und auszuweiten - ein Vorschlag, mit dem sich am Wochenende auch Bundeskanzler Gerhard Schröder anfreunden konnte.

Zurückhaltung beim Griff zum winterlichen Schnäppchen in den Kaufhäusern ist erst einmal nicht angesagt, selbst wenn die Gesetzesänderungen noch ein paar Monate auf sich warten lassen. Denn der Gerichtsbeschluß verspricht noch mehr: Gegen alle bislang ergangenen Steuerbescheide, die der Vorgabe des Gerichts, Ehepaare mit Kindern stärker zu entlasten, nicht gerecht wurden, kann ab sofort Einspruch erhoben werden - rückwirkend. Die Finanzämter sind verpflichtet, unmittelbar auf die Entscheidung zu reagieren.

Steuerrückzahlungen in Milliardenhöhe - was der Regierung wohl noch einiges an Kopfzerbrechen bereiten wird, soll die Sorge der VerbraucherInnen heute nicht sein. Abgesehen davon: Was die neue Regierung kann, können sie auch. Selbst wenn die Rücküberweisungen erst Ende des Jahres eintreffen sollten, sorgt das Verfassungsgerichtsurteil zunächst einmal für ein sorgenfreies Shopping. Keynes ist schließlich wieder in, Neuverschuldung angesagt, und die "Generation Pump" sitzt in den Startlöchern. Geld ausgeben für die Binnennachfrage - Karlsruhe macht es möglich.

Aber nicht nur das. Die "Solidargemeinschaft" zu stärken und die sozialen Netze zu sichern, ist Rot-Grün ebenfalls angetreten, weshalb die neue Regierung nicht nur um die Familien sich zu kümmern versprach: Jobs, Jobs, Jobs sollten her, und die - wo sonst - auf dem Billiglohnsektor. Sozial abgesichert, versteht sich, schließlich sollen auch die geringfügig Beschäftigten künftig Teil der großen, gleichberechtigten Gemeinschaft der Konsumierenden sein.

Behauptete Ende der letzten Woche jedenfalls die Regierung. Mit der von ihr vorgelegten neuen 630-Mark-Regelung würden den bundesweit rund fünf Millionen geringfügig Beschäftigten "nur Vorteile" entstehen, verteidigte Arbeitsminister Walter Riester (SPD) die seit Monaten umstrittene Gesetzesvorlage im Bundestag gegen die Opposition, die bestehende "Gerechtigkeitslücke" werde damit geschlossen.

Am wesentlichen jedoch ändert sich nichts. 630-Mark-JobberInnen müssen - vorausgesetzt, Bundestag und Bundesrat stimmen zu - auch in Zukunft keine Steuern zahlen. Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel: Jobs, die als Zuverdienst zu einer Hauptbeschäftigung ausgeübt werden oder mehrere Minijobs, die zusammen mehr als 630 Mark einbringen, müssen weiter versteuert werden. Um sicherzugehen, daß die Ausnahmen sich auch an die Regel halten, laufen diese künftig über die Lohnsteuerkarte. Außerdem wird die 630-Mark-Grenze bundesweit einheitlich eingefroren, um die Zahl dieser Jobs langfristig zu reduzieren.

Die Neuerung: Statt der bislang üblichen, vom Arbeitgeber abgeführten Pauschalsteuer, zahlt dieser dieselbe Summe nun als Beiträge in die Sozialkassen ein, zehn Prozent in die Kranken-, zwölf Prozent in die Rentenversicherung.

Doch was arbeitnehmerfreundlich klingt, ist für die JobberInnen ohne Wert: Ein Anspruch auf Versicherungsleistungen entsteht durch die Beitragszahlungen der Arbeitgeber nicht. Die Jobber können lediglich freiwillig in die Rentenkasse dazuzahlen, 7,5 Prozent, mindestens 58,50 Mark.

Frauen- und Familienministerin Christine Bergmann (SPD) kommentierte die Gesetzesvorlage als das Ende der"Flucht aus der Solidargemeinschaft". Das, was die Union 16 Jahre lang versäumt habe, die Ausweitung der Billigjobs im Zaum zu halten nämlich, werde hiermit beendet. Für Frauen, die mehr als 60 Prozent der Kleinjobbenden ausmachen, biete sich durch die Neuregelung die Chance zu einem eigenständigen Rentenanspruch und eine Brücke in die reguläre Beschäftigung.

Ganz so weit scheint die Frauen- und JoberInnenfreundlichkeit der Regierung dann doch nicht zu reichen. Wie sonst ließe sich erklären, was der stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Hermann Kues der Familienministerin im Bundestag genüßlich vorrechnete: Nach der neuen 630-Mark-Regelung müsse eine Frau hypothetisch 150 Jahre lang arbeiten, um eine Rente in Höhe der Sozialhilfe zu bekommen. Ein Fall für Karlsruhe? Um so besser. Der nächste Winterschlußverkauf kommt bestimmt.