Autonomie der Armut

Countdown im Niemandsland: Im Kosovo geht es nicht um Menschenrechte, sondern um die Kontrolle über das Flüchtlingslager Europas

"Kosovo, eine Schande für Europa" - mit dieser und ähnlichen Parolen versuchen westeuropäische Medien seit einigen Tagen, eine Militärintervention der Nato herbeizuschreiben. Während einmal mehr die politischen Menschenrechte der Kosovo-Albaner hochgehalten und als Rechtfertigung für einen bewaffneten Einsatz instrumentalisiert werden, tauchen in der Berichterstattung die ökonomischen und sozialen Hintergründe des Konflikts im Kosovo kaum auf. Die politische Diskussion dreht sich deshalb nur vordergründig um die Toten von Racak, auf der Tagesordnung steht vielmehr die Kontrolle über eine Armuts- und Kriegsregion, für die in der europäischen Marktwirtschaft kein Platz ist.

Diese Entwicklung zum Armenhaus Europas begann bereits unter Tito in den sechziger Jahren. Der Kollaps der von ihm eingeleiteten nachholenden Modernisierung führte spätestens seit 1987 zu Massenarbeitslosigkeit, Privatisierungen und zunehmender Verarmung. Lag das Industriewachstum Jugoslawiens zwischen 1980 und 1986 noch bei 2,8 Prozent, sank es 1987/88 auf Null und erreichte 1990 den Stand von minus 10,6 Prozent. Der Konflikt im Kosovo ist deshalb weniger ein Nachhutgefecht des Staatssozialismus als vielmehr ein Beispiel für die Abwicklung einer Region, die nicht mehr in den Weltmarkt integriert werden kann.

Mit dem beginnenden Zerfall Jugoslawiens 1991 wurde der hoch verschuldete, vornehmlich landwirtschaftlich geprägte und im Sinne der kapitalistischen Logik unproduktive Süden des Landes vom europäischen Markt abgekoppelt. Während die EU Slowenien und Kroatien als Billiglohnzonen der deutschen Textil- und Holzindustrie, lukrative Tourismusregionen und Lieferanten "disziplinierter" Migrationsarbeitskräfte eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte, erklärte der Internationale Währungsfonds (IWF) den Rest Jugoslawiens zum Abschreibeprojekt, in das keine müde Mark mehr gesteckt werden sollte.

Die durch die deutsche Anerkennungspolitik und den Krieg beschleunigte Auflösung des jugoslawischen Binnenmarktes verschärfte die ökonomische Situation im Süden Jugoslawiens weiter. Die Gesellschaft Jugoslawiens zeigt heute alle Merkmale eines für den Weltmarkt überflüssigen Landes: Massenarbeitslosigkeit (mehr als 50 Prozent) und vorgetäuschte Beschäftigung, Verarmung einer großen Mehrheit der Bevölkerung (95 Prozent), die Erzeugung einer Kultur der Gewalt, das Erstarken von Populismus sowie die Ruralisierung der Städte. Ein Überleben ist oft nur im informellen Sektor möglich. Ob es nun um das Beschaffen notwendiger Medikamente, Lebensmittel oder Kredite geht - nur Schattenwirtschaft und "Beziehungen" bieten eine gewisse Absicherung. Lediglich privilegierte Positionen ermöglichen einen Zugang zum Informationsmonopol, den Schutz vor Gesetzen und die Verwendung des (ehemaligen) gesellschaftlichen Kapitals, das mit illegalen und pseudolegalen Mitteln privatisiert wird.

Die Uno-Sanktionen von 1992 bis 1996, die das Land politisch und ökonomisch isolierten, führten zu einer massiven Ausweitung des "alternativen" Wirtschaftssektors (vor allem des Schmuggels mit Öl und Benzin). Der "Kriegsunternehmer" wurde zum dominanten Wirtschaftssubjekt. Die Verdienste aus dem "Schattenhandel" (d.h. dem Handel mit Lebensmitteln, Benzin, Zigaretten und Devisen) machen heute mehr als ein Drittel des gesamten Einkommens der jugoslawischen Bevölkerung aus. Das vom europäischen Markt abgekoppelte Jugoslawien ist zu einer "Armengesellschaft" mutiert, in der nur noch Familien, lokale Gemeinschaften und Clans einen gewissen Schutz bieten.

Die jugoslawische Regierung zeigte sich noch 1996 zu einer völligen Liberalisierung des Außenhandels, umfassenden Privatisierungen und einer Ankoppelung des Dinars an die D-Mark bereit. Damit diente sie sich Europa als Billiglohnland an, doch Kredite und Handelsverträge blieben weiter aus. Gleichzeitig führte der Kollaps der nachholenden, kreditfinanzierten Industrialisierung Jugoslawiens seit 1987 zu einer Renaissance der nationalen Identitäten Jugoslawiens. Unter dem Motto "Rette sich, wer kann" versuchten die Establishments der Regionen seitdem zunächst die eigene Haut zu retten, um nicht den Anschluß an den europäischen Markt zu verlieren. Dies führte zum Separatismus in Kroatien, Slowenien und dem Kosovo.

Mit derselben Zielsetzung verfolgte die serbische Regierung Ende der achtziger Jahre eine andere Strategie. Sie versuchte den jugoslawischen Gesamtstaat zusammen zu halten, da sie nur darin eine Chance sah, an der EU partizipieren zu können. Die deutsche Anerkennungspolitik blockierte diese Möglichkeit. Die zunehmende "antiserbische" Stigmatisierung in Westeuropa infolge des Krieges führte zu einer Radikalisierung des serbischen Nationalismus. Heute verbinden sich die nationalistischen Clanführer, die sich noch vor Jahren bekämpften, heißen sie nun Slobodan Milosevic, Vojislav Seselj (Chef der neofaschistischen serbischen Radikalen Partei) oder Vuk Draskovic (Vorsitzender der serbischen Bewegung der Erneuerung), zu einer nationalen "Schicksalsgemeinschaft" in der Regierung. Die serbische Bevölkerung homogenisiert sich immer mehr in dem Gefühl, die Parias der Welt sein.

Noch drastischer ist die Situation im Kosovo. Hier waren bereits 1980 gerade mal 170 000 der 1,5 Millionen EinwohnerInnen in einem regulären Arbeitsverhältnis beschäftigt. In Jugoslawien gab es bis Anfang der neunziger Jahre - vergleichbar mit der Situation in Italien - eine starke Arbeitsmigration vom Süden in den Norden. Viele Kosovo-AlbanerInnen waren als billige Arbeitskräfte in den Industriezentren Sloweniens und Kroatiens beschäftigt. Nach der Auflösung Jugoslawiens wurden sie ökonomisch "überflüssig". Der einzig florierende Wirtschaftszweig im Kosovo ist heute der Drogenhandel.

Worum es den großen Staaten der EU unter der deutschen Ratspräsidentschaft heute geht, ist nicht "die Bereinigung eines Konflikts" und die Schaffung ökonomischer Perspektiven. Wenn sie einen Autonomiestatus des Kosovo propagieren, ist immer nur die Autonomie einer ohnehin abgeschriebenen Region des Weltmarktes gemeint. Stöhnt die Schröder-Regierung heute bereits über die hohen Folgekosten eines EU-Beitritts der halbindustrialisierten osteuropäischen Staaten, so ist der vornehmlich landwirtschaftlich geprägte Süden Jugoslawiens für sie ein Faß ohne Boden.

Eine Militärintervention zielt auf eine "Eindämmung" des Konfliktherdes und vor allem der drohenden Flüchtlingsströme. Die serbische Polizei hat sich bei der Verwaltung und Befriedung des Flüchtlingslagers Kosovo als unpassende Organisation diskreditiert, deshalb soll dieser Job in Zukunft, wie in Bosnien, von OSZE-, Uno-, Nato- oder WEU-Truppen übernommen werden. Strittig ist noch die Frage, ob nicht der Anschluß des Kosovos an das größte europäische Flüchtlingslager, Albanien, die effektivste Lösung wäre. Das geringe Vertrauen Otto Schilys in die italienische Küstenwacht steht dem entgegen.