Vergißmeinnicht

Habermas-Nachfolger Axel Honneth will die Kritische Theorie noch tieferlegen. Auf einer Internationalen Konferenz in Hannover fand der Vorschlag wenig Beifall

Familientreffen schwanken üblicherweise zwischen verdruckster Harmonie und offenem Eklat. Auch auf akademischen Familienfeiern ist das nicht anders; eine inhaltliche Auseinandersetzung und Diskussion ist auf solchen Veranstaltungen daher nicht zu erwarten. Dabei waren die Voraussetzungen für interessante und relevante Auseinandersetzungen auf der Hannoveraner internationalen Konferenz "Kritische Theorie der Gegenwart", ausgerichtet vom Institut für Soziologie an der Universität Hannover am 27. und 28. November, hervorragend.

Der Kreis um Oskar Negt, bekannt als "Hannoveraner Schule" der Kritischen Theorie, zeichnet sich doch immerhin schon jahrzehntelang durch eine erfrischende Distanz zu theoretischen "Tieferlegungen" der Kritischen Theorie im Sinne Habermas' aus und schaffte es gleichzeitig, feministische Forschungen und klassische Arbeitstheorie in die Kritische Theorie zu integrieren und dabei die politische Kritik der aktuellen Transformationsprozesse innerhalb des Kapitalismus nicht zu vergessen. Die Verbindung dieser Neuerungen mit der klassischen Gestalt der Kritischen Theorie erfolgte allerdings in einem reformistischen Gesamtkonzept.

Negt stellte in seinem Eröffnungsbeitrag diesen mehr politischen als theoretischen Reformismus in seinen Anmerkungen zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Politik heraus. Der heutige neoliberale Kapitalismus zerbreche die "sozialstaatliche Schutzschicht" des Kapitalismus, die aktuelle Gesellschaftsentwicklung könne als Rückkehr frühkapitalistischer Verhältnisse gedeutet werden. Die Theorie der Frankfurter Schule sei trotz ihres Kerns, der sich durch die Bedeutung der Dialektik, der bestimmten Negation, der Totalitätskategorie und der Kritik der "Anmaßung des Ganzen" auszeichne, nicht dabei stehengeblieben, das "Ganze als das Unwahre" zu denunzieren. Vielmehr sei die "Herstellung eines vernünftigen Ganzen" ihr Ziel gewesen, an dem es festzuhalten gelte. Adorno sei mit dieser Perspektive bis zu seinem Lebensende orthodoxer Marxist geblieben.

Negt steigerte diese Interpretation der Kritischen Theorie bis zu der Aussage, daß "der Kapitalismus noch nie so funktioniert hat, wie er bei Marx beschrieben wird - außer heute". Der globalisierte Kapitalismus löse die Postmoderne ab, da Fragen der Produktionsweise und der Verteilung, allgemein des Sozialen, wieder mehr ins Zentrum der Auseinandersetzung rückten. Das lasse immerhin die Hoffnung zu, daß sich auch die Gesellschaftstheorie wieder verstärkt der Kritischen Theorie im Sinne einer an Marx anschließenden Kapitalismuskritik zuwende.

Russell Jacoby, führender kritischer Sozialpsychologe von der Universität Los Angeles, setzte sich mit der Rezeptionsgeschichte der Kritischen Theorie in den USA auseinander und ließ dabei wenig Hoffnung aufkommen, frühkapitalistische Zustände in seinem Land würden auch für eine angemessene theoretische Kritik sorgen. Auffällig sei, daß in der Philosophie, Soziologie und Gesellschaftstheorie in den USA alleine Habermas rezipiert werde, dessen politische Interventionen aber souverän ignoriert würden.

Adorno und Benjamin dagegen würden in der Literatur- und Kulturwissenschaft zwar breit rezipiert, meistens aber ohne ihre Kritik der politischen Ökonomie und ihre Geschichtstheorie, welche die Grundlage der Kritischen Theorie bilde. Die Rezeption erfolge beinahe ausschließlich in den Literatur- und Kulturwissenschaften auf ästhetischer Ebene. Der kritische Gehalt ihrer Theorie werde so vom akademischen Betrieb in den USA eher neutralisiert. In den USA gebe es zwar eine breite Marxismusrezeption, die Kritische Theorie sei aber außerhalb der ästhetischen Debatten als "reflektionistisch" und "totalitär" verrufen.

Ein weiterer beliebter Vorwurf laute, daß die Kritische Theorie zu "komplex" sei. Frederic Jameson äußerte dazu, daß sich die Kritische Theorie wegen ihrer Komplexität nicht für die auch im akademischen Betrieb virulente kulturindustrielle Verbreitung eigne, die sich in diversen "Handbooks of Critical Theory" und Sammelbänden wie "The Essential Critical Theory" äußere. In der Ausbildung an den Hochschulen gebe es eine breitere Basis als in Deutschland, aber es gebe eben keine eigenständige Weiterentwicklung der negativistischen dialektischen Gesellschaftstheorie.

Der Frankfurter Habermas-Nachfolger Axel Honneth demonstrierte, daß von deutscher Seite keine Hilfe bei der Weiterentwicklung Kritischer Theorie zu erwarten ist. Wie seine New Yorker Kollegin Nancy Fraser ist er damit beschäftigt, der Kritischen Theorie eine "Logik der Anerkennung" zugrunde zu legen. Fraser will mit einer "Politik der Anerkennung" die sich "überlappenden Bereiche" von Ökonomie, Politik und Kultur verbinden. Dazu sei es erforderlich, den Blickwinkel von der Umverteilung von Ressourcen, etwa zwischen den Klassen oder Geschlechtern, abzuwenden und sich generell von einer dualistischen Perspektive, die von klaren Interessengegensätzen ausgeht, zu verabschieden.

Zu Recht wies Regina Becker-Schmitt darauf hin, daß in der Kritischen Theorie und der Gesellschaftstheorie generell die Kategorie der Vermittlung weiter führe als der Begriff der Überlappung. Dann lasse sich der Popanz der Dualismen wie Klasse und Staat, Ökonomie und Kultur, der durch die Verabschiedung von gesamtgesellschaftlich operierenden Begriffen erst geschaffen werde, auflösen. Für einen sozialistischen Feminismus, wie ihn Fraser selbst vertreten wolle, sei dies theoretisch wie politisch die produktivere Perspektive.

Axel Honneth war dieser Vorschlag und selbst derjenige Frasers zu politisch. Die "Logik der Anerkennung" stelle für ihn eine Antwort auf "theorieimmanente Probleme" dar, nicht eine auf "soziale Probleme der Gegenwart". Er reduzierte den Feminismus und andere gesellschaftliche Widersprüche auf ein Problem der "Anerkennung von Ehre und Würde". Eine Umverteilung von Macht und Ressourcen in der Gesellschaft scheint mit seinem Vorhaben nicht mehr kompatibel zu sein.

Ein prozedurales Verständnis von Normativität und Gerechtigkeit, wie er es der Kritischen Theorie zugrunde legen möchte, konzentriere sich auf eine "Legitimation durch Verfahren", nicht auf das gesellschaftliche Ergebnis. Distributionskämpfe will er nur noch in der Optik eines Kampfes um Anerkennung interpretieren. Zu Recht wies er darauf hin, daß er sich theoretisch nicht nur mit einer auf die Tieferlegung der Habermasschen Universalpragmatik befasse, was ihn hoffentlich die nächsten zwanzig Jahre beschäftigen dürfte, so daß er nicht noch mehr überflüssigen Unsinn anrichten kann, sondern daß er auch mit seiner "anerkennungstheoretischen Wende" "eine Stufe unterhalb der Ebene" arbeite, auf der Fraser sich befinde.

Oskar Negt fiel hierzu nur noch ein, daß es sich theoretisch bei der Frage der Anerkennung nach Hegel um eine Anerkennung zwischen Herr und Knecht handele. Ob sich dies mit der Herrschaftskritik der Kritischen Theorie vertrage, sei doch zumindest fraglich. Moishe Postone ergänzte, daß eine Logik der Anerkennung auch eine Anerkennung als Feind implizieren könne. Damit laufe die Anerkennungstheorie auf den bekannten Liberalismus hinaus, verschleiere ihre Interessen aber im Gegensatz zu diesem. Honneths Anerkennungstheorie vermochte niemanden zu überzeugen. Der Habermas-Nachfolger mußte sich die Frage gefallen lassen, was das noch mit Kritischer Theorie zu tun haben soll; statt Kritik von Identität und Ideologie zu betreiben, schaffe er vermutlich eher neue.

Daß Kritische Theorie als radikale Gesellschaftskritik auf der Konferenz dennoch vertreten war, ist maßgeblich den Teilnehmern der Veranstaltung "Perspektiven Kritischer Theorie der Gegenwart" zu verdanken - dem Soziologen und Historiker Moishe Postone aus Chicago, Mosche Zuckermann aus Tel Aviv, Giacomo Marramao aus Rom und Gudrun Axeli-Knapp sowie Detlev Claussen aus Hannover. Marramao sprach sich gegen eine neue Identitätspolitik aus und schlug eine "Politik der Freundschaft gegen die Fixierung auf Identitäten" im Rahmen einer "universalistischen Differenzpolitik" vor. Marramao und Zuckermann betonten, daß eine kulturalistische Anerkennungswendung der Kritischen Theorie aussichtslos sei, da die Kultur heute nicht mehr nur Mittel, sondern vielmehr Medium der Herrschaft geworden sei.

Die Kulturindustrie sei heute, so Zuckermann, der "Hauptfaktor des Verblendungszusammenhangs" und zu einem "Modus des menschlichen Verhaltens und Umgangs miteinander" geworden. Auch der autoritäre Charakter bilde sich heute vornehmlich nicht mehr in der Familie, sondern durch Projektion auf Produkte der Kulturindustrie aus.

Dies war auch als Einwand gegen Detlev Claussen zu verstehen, der gefragt hatte, ob die Kulturindustrie für die Aufklärung über Auschwitz instrumentalisierbar sein könnte. Zuckermann war hier radikaler: Eine "Fetischisierung der Anerkennung" habe die Funktion, von Herrschaft, Entfremdung und entfesseltem Kapitalismus abzulenken. Das gelte auch für die Kulturindustrie als Basis des modernen autoritären Charakters.

Besonders Postone und Zuckermann bewiesen, daß Kritische Theorie in der Lage ist, nicht nur "ihre Zeit in Gedanken zu fassen", sondern daß sie diese Zeit auch auf den Begriff bringen und radikal kritisieren kann. Moishe Postone sprach sich klar gegen eine grundbegriffliche Revision der Kritischen Theorie aus. Ganz im Gegenteil müßten in der Kritischen Theorie vernachlässigte Kategorien wie die Warenform und die abstrakte Arbeit erneuert werden. Habermas gehöre mit seiner Theorie konjunkturell in die sechziger Jahre der ausgeweiteten Staatstätigkeit und der scheinbar ewigen Krisenfreiheit.

Die kulturalistische Wende der Kritischen Theorie erinnere ihn dagegen an die Friedhofsruhe der fünfziger Jahre, als noch nicht einmal über Verteilungsfragen diskutiert werden durfte. Abstrakter Universalismus und konkreter Partikularismus seien gleichermaßen unbrauchbar, es komme darauf an, die Kritische Theorie mit ihrem Festhalten an der Negativität und Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung als Ökonomiekritik zu erneuern und durch die Kategorie der Differenz zu ergänzen.

Damit sei es möglich, theoretisch den Weg zu einer Überwindung der historisch spezifischen Form der abstrakten Arbeit und damit des Kapitalismus offenzuhalten. Postone rief als Beispiel einer Kritischen Theorie auf der Höhe der Zeit zu einer Kritik des Fetischs der Kommunikation und Information und ihrer Grundstruktur auf.

Die Veranstaltung endete so harmonisch wie eine gelungene Familienfeier: Negt bedankte sich bei den zumeist jungen Zuhören und kündigte an, daß diese Tagung ihre Fortsetzung finden werde, man wolle schließlich die Hannoveraner Schule der Kritischen Theorie fest etablieren. Das Diskussionsklima sei um Klassen besser gewesen als in den Seminaren Adornos, wo man sich nach einer Fehlinterpretation eines Klassikers wochenlang unter dem strafenden Blick des Meisters nicht mehr getraut habe, ein einziges Wörtchen zu sagen. Gudrun Axeli-Knapp, Professorin für Soziologie in Hannover, unterbrach ihn: "Wieso, das hast du doch mit uns auch gemacht."

Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß wenigstens die dritte Generation der Kritischen Theorie, die Schüler der Schüler Adornos, es in diesem Punkte besser machen werden. Was auch immer sie sagen, die Honneths, Frasers oder Claussens - daß ihre professorale Autorität ein Deutungsmonopol des Wissens begründen könnte, das glaubte in Hannover unter den Teilnehmern der Konferenz niemand mehr.

Deutlich wurde dagegen, daß sich die Kritische Theorie wieder verstärkt auf die Ökonomie- und Kulturindustriekritik konzentrieren muß, wenn sie etwas Sinnvolles über spätkapitalistische Vergesellschaftung aussagen will.